Geisterfjord. Island-Thriller
in die Augen. Sie war nervös und hielt den Augenkontakt etwas zu lange, so dass er sich wie bei einer mündlichen Prüfung fühlte. »Ich meine, bist du auf irgendwas gestoßen, dass Hallas Interesse an Benni erklären könnte? Sie scheint von ihm ja genauso besessen gewesen zu sein wie von Bernódus.«
»Ich habe nichts gefunden. Ich glaube, dass sie mit meinem Sohn, mit mir und meiner Familie überhaupt nichts zu tun hatte.« Freyr zog die Kopien zu sich heran. »Ihre Verbindung zu Benni hat nur in ihrer eigenen Vorstellung existiert, wie auch immer die aussah.«
»Aber das ist schon ein bisschen seltsam, findest du nicht?« Dagný schaute ihm immer noch in die Augen. »Dein Sohn verschwindet, du ziehst hierher, und dann kommt ein uralter Fall hoch, bei dem ein Junge auf ganz ähnliche Weise verschwunden ist.«
Es wäre am einfachsten gewesen, alles abzustreiten, zu sagen, es handele sich um einen unglaublichen Zufall, und das Gespräch dann auf ein anderes Thema zu lenken. Aber Freyr wollte sich Dagný anvertrauen. »Das ist mehr als seltsam. Es ist total verrückt. Wenn ich nicht so geschockt wäre, könnte ich vielleicht klar denken und einen Zusammenhang herstellen. Aber das ist alles so absurd und kompliziert, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Freyr trank einen Schluck lauwarmen Kaffee und fuhr fort. »Mein Sohn und Bernódus hatten nichts gemeinsam, außer dass sie verschwunden sind. Dazwischen liegen Jahrzehnte. Sie sind auch nicht miteinander verwandt, das habe ich schon überprüft. Bernódus’ Verschwinden ist zu lange her, als dass derselbe Täter dahinterstecken könnte. Alles weist darauf hin, dass es keine Verbindung gibt, aber ich kann das einfach nicht glauben. Die beiden Namen stehen ja in Hallas Abschiedsbrief und in den SMS in ihrem Handy. Das kann doch kein Zufall sein!«
Dagný lächelte ihn dumpf an. »Ich stimme dir voll und ganz zu. Natürlich habe ich gehofft, du hättest eine Idee. Und ehrlich gesagt, haben wir sämtliche Möglichkeiten abgeklopft, mit Hallas Mann und ihren Kindern und ihren früheren Arbeitskollegen gesprochen, aber keiner weiß was, und alle sind irritiert, wenn das Gespräch auf deinen Sohn oder Bernódus kommt.« Sie zog ein paar Blätter heran, die sie bisher noch nicht angerührt hatte. »Sowohl ihr Mann als auch ihre Tochter sagen, dass Halla in den letzten Jahren so gut wie keinen Kontakt zu ihren Freundinnen hatte. Stattdessen hat sie versucht, Freundschaften aus ihrer Kindheit wiederaufleben zu lassen. Von den alten Schulkameraden waren einige weggezogen, daher hat sie viel telefoniert, und ihr Mann hat sich über die hohen Telefonrechnungen beschwert. Eine alte Freundin wohnte in Ísafjörður, aber die ist gestorben, kurz nachdem Halla sie kontaktiert hat. Ihr Mann und ihre Tochter sind sich einig, dass der Tod dieser Freundin der Auslöser dafür war, dass Halla wieder Kontakt zu ihren alten Schulfreunden aufnehmen wollte. Ihr sei klargeworden, dass sie dafür nicht mehr viel Zeit hatte. Ihr Mann sagt auch, er hätte, nachdem er mit dir gesprochen hat, viel über ihren neu erweckten Glauben nachgedacht. Er meint, dass der Anstoß dafür auch der Tod dieser Frau gewesen sei. Halla hätte sich einen Platz im Himmel sichern wollen.«
Dagný schob ihm zwei Blätter zu: eine Kopie des Klassenfotos, das er schon besser kannte, als ihm lieb war, und eine Namensliste mit Anmerkungen. Er überflog sie. Lárus Helgason, Védís Árngrímsdóttir, Silja Konráðsdóttir, Jón Ævarsson und Steinn Gunnbjörnsson. »Wie du siehst, sind Hallas alte Freunde genau die, die damals auf dem Foto unkenntlich gemacht wurden. Die meisten sind, wie wir wissen, tot. Nachdem Halla anfing, sie ausfindig zu machen, ist einer nach dem anderen gestorben.«
Freyr schob die Liste wieder zu Dagný. Das Foto lag noch vor ihm, und Bernódus’ erbärmlicher Anblick stach ihm ins Auge. »Habt ihr mit diesem Lárus gesprochen?«, fragte er.
»Jein.« Dagný faltete das Blatt zusammen. »Er hat den Hörer aufgeknallt, als er gehört hat, worum es geht, und da er in Reykjavík wohnt, können wir nicht einfach bei ihm vorbeigehen. Ich möchte die Kollegen in Reykjavík im Moment nicht in den Fall hineinziehen. Ich kann die Hintergründe einfach nicht vernünftig erklären.«
Freyr wandte seinen Blick von dem Foto ab, das ihn zu hypnotisieren schien. »Und wie sind die anderen gestorben? Mit siebzig muss man zwar mit allem rechnen, aber das sind ziemlich viele Todesfälle
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