Geisterfjord. Island-Thriller
gelebt hatten. Hoffentlich konnte der Lehrer Licht auf die Geschichte des Jungen werfen, in der Schule war bestimmt viel darüber geredet worden.
Das Geräusch des Kopierers verstummte. »Möchtest du einen Kaffee?« Dagný erschien mit zwei Papierstapeln in der Türöffnung: mit den vergilbten Vorlagen und den schneeweißen Kopien. »Ich muss nicht extra einen aufgießen, wir haben einen Kaffeeautomaten.«
Freyr schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Im Moment wollte er weder etwas essen noch trinken. Plötzlich musste er daran denken, wie dünn Sara nach Bennis Verschwinden geworden war. Sie hatte kaum noch etwas zu sich genommen, und ihre Ehe war immer schlechter geworden. Völlig gleichgültig. Sein Herz zog sich zusammen, als er die rundliche, lebenslustige Sara mit dem Hungerhaken verglich, zu dem sie geworden war und der nur noch aus Gewohnheit weiterlebte. Auch wenn es vielleicht keinen Grund für die Befürchtung gab, dass er auf demselben Weg war, musste er sich der Gefahr bewusst sein. Sara war schließlich auch nicht klar gewesen, wozu das alles führen würde, als sie die erste Tasse Kaffee abgelehnt hatte. Freyr straffte sich. »Äh, oder doch, gerne.« Er zwang sich, Dagný anzuschauen, die in der Tür kehrtmachte, um den Kaffee zu holen. Er bewunderte ihre Hüften und ihre weiblichen Rundungen, die von der unförmigen Uniform nicht gänzlich verdeckt wurden. Als er an dem starken Kaffee nippte, fühlte er sich schon etwas besser.
»Es ist nicht ersichtlich, ob Halla nur mit Bernódus in der Grundschule in derselben Klasse gewesen ist oder mehr mit ihm zu tun hatte.« Dagný setzte sich wieder neben ihn und steckte die alten Berichte zurück in die Aktenordner. »Jedenfalls wurde damals nichts dazu angemerkt.« Sie schüttelte ausgiebig den Kopf, wie um ihr Gehirn in Gang zu bringen. »Aber es muss einen Grund geben, warum Halla so besessen von dem Jungen war.« Dagný raufte sich die kurzen Haare. »Ich habe keine Ahnung, was Kinder in diesem Alter so stark aneinander binden kann, dass es selbst Jahrzehnte nach dem Tod des einen noch Einfluss hat. Selbst wenn sie gut befreundet waren, was ich mir allerdings kaum vorstellen kann. Nach Aussage der Schule war Bernódus ein Einzelgänger und hat sich meistens abseits gehalten.«
Freyr stimmte ihr zu. Er wusste, dass Kinder wie Bernódus, die von ihren Eltern körperlich und seelisch vernachlässigt wurden, oft Außenseiter waren. Sie hatten nur selten einen »besten Freund« und konnten froh sein, wenn die anderen Kinder sie nicht die ganze Zeit hänselten. »Bernódus’ Verschwinden könnte natürlich damals ein Schock für sie gewesen und wieder hochgekommen sein, als sie psychisch labil war. Kinder sind in diesem Alter sehr sensibel, und schlimme Erlebnisse in den prägenden Jahren hinterlassen Narben auf der Seele«, sagte Freyr. »Oder sie wusste etwas oder hat gesehen, wer für Bernódus’ Tod verantwortlich war.«
»Aber warum hat sie das nicht erzählt?«
»Dafür kann es viele Gründe geben. Vielleicht weil sie Angst hatte, die Nächste zu sein, vielleicht ist ihr auch erst später klargeworden, was sie gesehen hat, und da war es zu spät, vielleicht hat sie sich geschämt, weil sie Bernódus nicht geholfen hat, oder sie wollte den Täter schützen.«
»Aber wer sollte das sein?« Dagný wirkte nicht mehr ganz so skeptisch im Hinblick auf Freyrs Theorie wie am Anfang.
»Zum Beispiel ein naher Verwandter. Hallas Vater war anscheinend auch Alkoholiker. Vielleicht war er auch gewalttätig.«
Dagný nickte nachdenklich, und ihr zerzaustes Haar folgte der Kopfbewegung einen Sekundenbruchteil später in einer Wellenbewegung, so als bräuchte es einen Moment, um sich zu orientieren. »Das würde natürlich einiges erklären. Es muss furchtbar sein, wenn man seit seiner Kindheit so ein Geheimnis für sich behält.« Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht und schlug die Beine übereinander. »Kann es sein, dass Halla die damaligen Ereignisse verdrängt hat und dann von ihnen eingeholt wurde, was zu ihrem Selbstmord geführt hat?«
Freyr lächelte. »So etwas passiert sehr selten, und es ist wissenschaftlich umstritten. In den Medien wird ja im Zusammenhang mit sexueller Gewalt gegen Kinder häufig über verdrängte Erinnerungen diskutiert. Allerdings ist das bisher nie nachgewiesen worden. Es würde mich sehr wundern, wenn das hier der Fall ist.«
»Hast du eine Idee, welche Verbindung es zu deinem Sohn geben könnte?« Dagný schaute Freyr
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