Geisterjagd
Unterlippe, kämpfte die Tränen nieder, die der Kummer aus ihr hinauspreßte. Sie wollte nicht weinen, wollte nicht, daß der Zorn, der in ihr wühlte, durch diese Erleichterung verringert wurde. Sie brauchte sie, diese Wut, brauchte sie, um ihre Entschlossenheit zu nähren, denn sonst, fürchtete sie, würden die Jahre der Übung in Passivität und Zurückhaltung sie in ihrer Absicht wanken und schließlich sogar versagen lassen.
Schweißperlen klebten auf ihrer Haut, sickerten in ihr Haar. Sie wischte nach Haarsträhnen, die an ihrer feuchten Stirn kitzelten, fuhr herum und ging rasch aus dem Zimmer. Ihre Füße verursachten keinen Laut, huschten flink über den Teppich; draußen, auf den Fliesen, entstanden nur leise, flüsternde Geräusche. Das Tagebuch lag vergessen auf dem Schreibtisch, das Bedürfnis, sich zu bewegen, ihr Zimmer hinter sich zu lassen, tilgte alle anderen. Sie huschte durch dunkle, stille Flure, vorbei an Türen, hinter denen müde Diener schliefen und - was auch immer - träumten … Manchmal kam es ihr so vor, daß diese Träume aus den stöhnenden Körpern emporstiegen und kamen, um mit ihr in der Nacht zu plaudern … manchmal sah sie fühlbar gemachtes Lachen: spielende, sich gegenseitig neckende Kinder, und das war furchtbarer als die Bedürfnisse, die in Ungeheuerfleisch gehüllt waren, Bedürfnisse, die heulend und wehklagend um ihr Bett kreisten … manchmal gab es ein klangvolles Keuchen, das stundenlang über ihr schwebte, ununterbrochen, bis sie schon glaubte, die Welt selbst atme über ihr und warte mit unfaßbarer Geduld darauf, von dem fremden Fleisch befreit zu werden, das sie unterdrückte.
Die Wachhunde, die in ständig wechselnden Routen durch die Flure hechelten, ingorierten sie. Sie gehörte der Familie an, und ihr Vater hatte sich in Unkenntnis ihrer Gewohnheiten nicht die Mühe gemacht, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Sie ging durch die widerhallenden, öffentlichen Räumlichkeiten, ein barfüßiges, schwarzgekleidetes Gespenst; die Geräusche ihrer Wanderschaft wurden in die überwältigende Stille hinein verschluckt - selbst im Dämmerschein der Lichtstreifen hatten die Räume eine strenge Pracht, die sie einschüchterte. Aus diesem Grund kam sie oft bei Nacht hierher, ihre Anwesenheit war ein stilles Trotzen gegen alles, wofür sie standen..
Sie kam in den großen Speiseraum, dachte kurz daran, wie sehr ihr Vater darauf bestand, daß er von der Familie genutzt wurde, obgleich ihre Z.ahl durch den Tod der Schwiegermutter und die Hochzeiten ihrer älteren Schwestern stark abgenommen hatte. Lilit schlenderte an der wuchtigen Holztafel vorbei, den schweren, wunderbar geschnitzten und unglaublich unbequemen Holzstühlen, preßte die Nase gegen das Glas der falschen Aussicht. Rosen und spanischer Flieder, Farne und Miniaturbäume, Miniaturhäuser, ein Miniaturbach, jetzt ausnahmslos Schatten, von denen einer in den anderen überging. Lilit bewegte ihr Gesicht über das Glas, fühlte es kühl auf der einen Wange, dann auf der anderen, fühlte sich wie erstickt, wollte die Wände zerschlagen, die sie gefangenhielten, die Abschirmung, die sie schützen sollte und der es nur gelang, sie auf alle Zeiten als Gefangene dahinvegetieren zu lassen. Sie abzusperren von der Realität, die zu berühren sie sich sehnte - und die sie niemals zu berühren wagen würde.
Mit einem Zischlaut und einem ungeduldigen Rucken ihres Kopfes wandte sie sich von der falschen Aussicht ab und setzte sich auf den Stuhl ihres Vaters. Sie schaute zu dem Platz hinüber, auf dem sie normalerweise saß, weit entfernt entlang der langen Tischfläche, und sie lächelte bitter. Ihre beiden Halbbrüder saßen rechts und links von ihrem Vater. Sie war so weit von ihnen entfernt, daß sie getrost ignoriert werden konnte.
Lilit schrieb:
Vater ist ein hochaufragender, magerer Mann mit widerspenstigem schwarzem Haar, so schwarz, daß es glänzt, wenn das Licht passend darauffällt. Helle Haut, fast durchsichtig. Ein breiter Mund, manchmal beweglich, normalerweise diszipliniert, die Sinnlichkeit unter strenger Kontrolle gehalten. Dunkelblaue Augen, sehr oft kühl, hin und wieder verengt, manchmal milde tarnend, intelligenter, abschätzender Blick. Er lacht selten, sogar noch weniger als er lächelt, aber er ist nicht humorlos. Er schätzt das Komische und hegt eine satirische Geisteshaltung, die er gewöhnlich für sich behält, obgleich ich schon erlebt habe, wie er sie mit verheerender Wirkung benutzt
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