Geisterlicht: Roman (German Edition)
dort besucht hättest, wie sie es immer wollte, wärst du vielleicht nicht zu mir zurückgekommen, sondern lieber bei deiner Mutter und deiner Schwester geblieben. Also schickte ich die Briefe ungeöffnet zurück.«
»Und wenn ich nach meiner Mutter gefragt habe, hast du mir immer erzählt, sie wolle nichts mehr von mir wissen! Weißt du eigentlich, war du mir damit angetan hast?« Fiona hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie sprang auf und lief zur Tür.
»Es tut mir leid! Ich habe das alles doch nur aus Liebe getan. Weil ich dich nicht auch noch verlieren wollte.«
Die Stimme ihres Vaters klang so kläglich, dass Fiona ihm am liebsten vor Verachtung ins Gesicht gespuckt hätte. Sie fuhr wütend herum. »Das ist keine Liebe, sondern Egoismus!«, fauchte sie ihn an. »Und ich wünsche dir, dass du auch mal ein paar Menschen verlierst, die dir was bedeuten. Falls es davon überhaupt welche gibt!«
» Du bedeutest mir etwas. Mehr als alles andere auf der Welt«, sagte er so leise, dass es seiner Tochter nicht schwerfiel, seine Worte zu überhören.
Ihr Vater hatte keine Geschwister, und seine Eltern waren vor vielen Jahren gestorben. Er war kein Mensch, der leicht Freundschaften schloss. Es gab in seinem Leben ein paar Kollegen, mit denen er sich gelegentlich auf ein Glas Wein traf, und eben sie, Fiona – diejenige seiner beiden Töchter, die nach der Trennung von seiner Frau bei ihm geblieben war. Wieder bedauerte sie ihn für ein oder zwei Sekunden, und erneut gewann die Wut die Überhand.
»Wirklich, Fiona, es tut mir schrecklich leid! Wenn ich irgendetwas tun kann, um es wiedergutzumachen …« Hilflos fuhr er mit der Hand durch die Luft. Obwohl er ihn gar nicht berührt zu haben schien, geriet der kleine chinesische Buddha, den Fiona ihm vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, ins Wanken. Die Porzellanfigur mit dem dicken Bauch und dem glücklichen Lächeln kippte zur Seite, schlug auf die Schreibtischkante und wurde praktisch enthauptet. Dann rutschte sie über den Rand und zerschellte auf dem harten Boden in zahllose Stücke.
Verblüfft berührte Fiona mit der Schuhspitze eine Scherbe, die bis vor ihre Füße gekullert war. Sie wusste, dass ihr Vater sehr an dem kleinen Buddha gehangen hatte. Aber es konnte wohl kaum sein, dass das Figürchen wegen ihrer Worte zu Bruch gegangen war, so wie es ihr einen Augenblick lang vorgekommen war. Sie räusperte sich.
»Das geschieht dir ganz recht«, stieß sie hervor und deutete auf die Scherben ihres Mitbringsels. Dann warf sie den Kopf in den Nacken. »Wie ich schon sagte, werde ich Urlaub nehmen, um nach Schottland zu fahren. Bezahlten Urlaub. Und ich weiß noch nicht, ob und wann ich zurückkomme. Am besten siehst du dich nach einer Vertretung für mich um, damit Anja nicht alles allein machen muss.« Anja und sie erledigten als Anwaltsgehilfinnen sämtliche Büroarbeiten, die in der Kanzlei anfielen.
»Ja. Sicher.« Siegfried Kramer hustete verzweifelt gegen die Heiserkeit an, die ihm das Sprechen schwer machte. »Aber ich wäre sehr glücklich, wenn du zurückkämst.«
Sie unterdrückte einen Seufzer. »Selbst dann weiß ich nicht, ob ich hier noch weiter arbeiten möchte.« Mit diesen Worten verließ Fiona das Büro ihres Vaters.
Inzwischen war Anja an ihrem Arbeitsplatz eingetroffen, und da sämtliche Türen offengestanden hatten, hatte sie den Streit zwischen Vater und Tochter mitangehört. Anja schaute Fiona aus weit aufgerissenen Augen an.
»Du nimmst Urlaub? So plötzlich?«
Mit wenigen Worten erzählte Fiona ihrer Freundin, was geschehen war. Dann umarmte sie Anja fest. »Wir bleiben in Kontakt«, versprach sie. »Tut mir leid, dass ich dich so unvorbereitet mit der ganzen Arbeit sitzenlasse. Falls mein Vater nicht sofort eine Vertretung einstellt, sag mir Bescheid.«
Anja nickte nur und sah mit unglücklichem Gesicht zu, wie Fiona einige persönliche Dinge aus ihrer Schreibtischschublade nahm. »Wenn du zu lange wegbleibst, nehme ich auch Urlaub und komme dich in Schottland besuchen«, erklärte sie, als Fiona sie zum Abschied noch einmal an sich zog.
»Unbedingt.« Mit gerunzelter Stirn fixierte Fiona Siegfried Kramers Bürotür, hinter der es in diesem Moment erneut klirrte und schepperte. Dann verließ sie mit zusammengepressten Lippen die Kanzlei, ohne sich von ihrem Vater verabschiedet zu haben.
Zweites Kapitel
Der Taxifahrer sah starr nach vorn und rührte sich nicht. Seit mindestens zehn Minuten stand der Wagen auf der
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