Geisterlicht: Roman (German Edition)
Briefe kamen ungeöffnet zurück, auch die, die sie später direkt an dich adressiert hat, als sie annahm, dass du inzwischen selbst lesen konntest.«
»Das ist nicht wahr! Ich habe keinen einzigen Brief von ihr bekommen.« Vor Fionas Augen verschwamm ihr Schlafzimmer. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern und lief langsam über ihre Wange. Ungeduldig wischte sie sie mit dem Handrücken fort. Ihr musste etwas ins Auge geflogen sein, denn das Weinen hatte sie sich schon vor vielen Jahren abgewöhnt.
»Es war aber genau, wie ich es sage«, beteuerte Dawn. »Irgendwann hat Mim es dann aufgegeben. Sie dachte, du willst nichts mit ihr zu tun haben, weil sie damals ohne dich fortgegangen ist. Und ich … Ich habe mich auch nicht getraut, Kontakt zu dir aufzunehmen. Aber jetzt… Wir brauchen dich. Kannst du nicht kommen? So schnell wie möglich?«
Fiona war sprachlos. Inzwischen fielen die ersten Sonnenstrahlen des Spätsommertages ins Zimmer, und sie konnte sich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehen. Ihre langen dunklen Haare waren vom Schlaf zerzaust, aber ihr Blick wirkte kein bisschen verschlafen. »Was ist denn so wichtig und eilig, dass es nicht warten kann?«, erkundigte sie sich zögernd, während sie sich verzweifelt bemühte, die Gedanken und Gefühle zu verarbeiten, die auf sie einstürzten.
»Das ist … am Telefon schwierig zu erklären.« Dawn geriet ins Stottern.
»Brauchst du irgendeine Art von Unterstützung?«, versuchte Fiona ihrer Schwester zu helfen. Ganz egal, worum es ging, würde sie ihrer kleinen Schwester natürlich beistehen und so vielleicht einen Teil dessen nachholen können, was sie beide während der vergangenen dreiundzwanzig Jahre versäumt hatten. Außer ihrem Vater besaß Fiona in Deutschland keine Verwandten. Vielleicht war Dawn in Schottland nach dem Tod ihrer Mutter genauso allein, weil es auch dort keine weiteren Angehörigen gab.
»Es geht um unsere Familie«, erklärte Dawn zögernd. »Und um Catriona. Sie ist … so etwas wie unsere Ahnin.«
»Aha«, machte Fiona irritiert. Meinte Dawn eine Großmutter? Soweit sie sich erinnerte, war Noreens Mutter schon tot gewesen, als ihre beiden Enkelinnen geboren wurden. Doch wenn ihre kleine Schwester sie nach all den Jahren zum ersten Mal brauchte, musste sie ohnehin keine langen Erklärungen abgeben, beschloss Fiona spontan.
»Dawn, hör zu. Ich werde gleich heute Urlaub nehmen. Das dürfte kein Problem sein. Dann packe ich meine Koffer, buche den nächsten Flug und bin vielleicht schon morgen bei dir.« Ihre energische, tatkräftige Seite gewann endlich wieder die Oberhand.
»So schnell?« Dawn klang überrascht und erfreut. »Das wäre wirklich toll. Ich werde zwar morgen den ganzen Tag unterwegs sein, aber falls ich noch nicht wieder da bin, wenn du ankommst, weißt du ja, wo der Hausschlüssel liegt. Du machst es dir dann einfach schon mal bequem bei uns.«
»Woher soll ich denn wissen, wo der Schlüssel ist?« Fiona schüttelte verwundert den Kopf. Ihre kleine Schwester schien ein wenig verwirrt zu sein. »Ich war noch nie dort.«
»Aber du kannst doch …« Dawn stockte und stieß ein seltsam ersticktes Lachen aus. »Ich lege ihn unter den Rand des Regenfasses neben der Haustür«, erklärte sie nach einer kurzen Pause.
»Gut. Ich brauche noch die Adresse.« In ihrer Nachttischschublade angelte Fiona nach dem Notizblock und dem Bleistift, die sie dort verwahrte, weil sie sich manchmal schon vor dem Aufstehen eine Liste von all den Dingen machte, die sie im Laufe des Tages erledigen wollte.
Dawn diktierte ihr die Anschrift und beschrieb ihr, wie sie vom Flughafen Inverness in das kleine Dorf Kelton gelangte, wo sich das kleine Haus befand, das die beiden Schwestern von ihrer Mutter geerbt hatten. Es rührte Fiona, dass ihre Schwester betonte, sie beide seien die gemeinsamen Eigentümerinnen.
»Es steht auf dem Stück Land, auf dem die Abercrombies seit Jahrhunderten wohnen«, fügte Dawn stolz hinzu. »Höchste Zeit, dass du es kennenlernst.«
»Ja«, stimmte Fiona ihr zu. »Allerhöchste Zeit.«
»Sag mal, Fiona …« Im fernen Schottland kicherte Dawn nun wie ein Kobold ins Telefon. »Was ist denn das für ein Mann, von dem du da vorhin geträumt hast? Der mit den schwarzen Haaren und so weiter?«
»Ach, der …« Fiona schaute hilfesuchend ihr Spiegelbild an. Dann versuchte sie abzulenken. »Als das Telefon klingelte, dachte ich, es sei meine Freundin Anja. Sie weiß, wann mein Wecker klingelt, und
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