Geisterlicht: Roman (German Edition)
schmalen gewundenen Straße, ohne sich auch nur einen Meter vorwärtsbewegt zu haben. Als Fiona sich dem schweigsamen Schotten zuwandte, leuchtete sein rotes Haar im Schein der tief stehenden Spätsommersonne wie eine lodernde Flamme.
»Vielleicht sollten Sie es mal mit Hupen versuchen?«, meldete sie sich schüchtern zu Wort, während sich drei weitere Schafe zu der Gruppe wolliger Tiere gesellten, das sich bereits auf dem Sträßchen versammelt hatte.
»Hat keinen Zweck.« Der Fahrer betrachtete interessiert eine weiße Wolke, die gelassen über den Himmel glitt.
»Wie weit ist es denn noch?« Fiona rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Zwar hatte sie es eigentlich nicht eilig, zumal sie nicht einmal wusste, ob ihre Schwester zu Hause war, dennoch spürte sie eine wachsende Ungeduld, endlich ihr Ziel zu erreichen. Dawn hatte gesagt, das Haus der Abercrombies stünde auf dem Stück Land, auf welchem ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten gelebt hätten. Nun war es, als würde die Heimat ihrer Familie nach Fiona rufen.
Der Mann hinter dem Steuer kratzte sich am Kopf und runzelte die Stirn. »Kelton liegt gleich da hinter dem Hügel.« Er deutete über die Rücken der Schafe.
»Dann gehe ich die restliche Strecke zu Fuß.« Fiona kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. Nachdem sie die Fahrt bezahlt und zugesehen hatte, wie der Schotte gemächlich den Wagen wendete, setzte sie sich in Bewegung. Die Schafe machten ihr leise blökend Platz, als sie sich, ihren knallroten Trolley hinter sich herziehend, vorsichtig zwischen den warmen Leibern hindurchschob. Dann war die schmale Straße vor ihr frei. Sie atmete tief die klare, frische Luft ein und marschierte los.
Fiona hatte früher schon Fotos von den schottischen Highlands gesehen, aber die raue Schönheit der Landschaft überwältigte sie dennoch. Rechts und links des Sträßchens, das von Natursteinmauern begrenzt wurde, lagen grasbewachsene Hügel, zwischen denen vereinzelte schroffe Felsen in den Himmel ragten. In der Ferne glitzerte wie ein zwinkerndes Auge ein fast kreisrunder See, wohl einer der berühmten schottischen »Lochs«. Darüber thronte auf einem Hügel eine kleine Burg mit zwei Türmen.
Als sie die Hügelkuppe überschritten hatte, blieb sie erstaunt stehen. Ihr zu Füßen, eingebettet in das Tal, breitete sich wie eine kleine Spielzeugstadt, die ein Riesenkind liebevoll aufgebaut hat, ein Dorf aus. Es bestand aus etwa zwanzig Steinhäusern mit dunkelroten Ziegeldächern rechts und links der kurvigen Straße, die durch den den Ort führte. Sämtliche Gebäude lagen inmitten blühender Gärten, und am Rand des Dorfes erstreckten sich großzügige Weiden, auf denen Schafe und vereinzelte Kühe und Pferde grasten. In der klaren Luft war selbst aus der Ferne jede Einzelheit deutlich zu erkennen. Wie durch eine Lupe sah Fiona fast überdeutlich die gelben Birnen, die an einem Baum hingen, und den braun gefleckten Hund, der in einem Vorgarten in der Nachmittagssonne lag und schlief.
Fiona wusste sofort, welches das Haus der Abercrombies war. Sieerkanntees ganz einfach , obwohl das eigentlich nicht möglich war, weil sie es ja noch nie zuvor gesehen hatte. Dennoch packte sie den Griff ihres Trolleys fester und heftete den Blick auf das dunkelrote Ziegeldach am Dorfrand. Die Haustür und die Fensterläden des Häuschens waren grün gestrichen, und neben den drei Stufen, die zur Eingangstür hinaufführten, stand eine kleine Regentonne. Entschlossen machte sich Fiona auf den Weg und fand sich nach einem kurzen Fußmarsch bereits im Dorfkern von Kelton wieder.
In einem Garten an der Straße werkelte eine alte Frau mit Kopftuch. Um sie herum sprang ein kläffender Terrier, offenbar war es der Hund, den Fiona vorhin noch schlafend gesehen hatte. Als die Frau aufblickte, nickte Fiona ihr freundlich zu. Fremde kamen anscheinend nicht oft in den kleinen Ort, denn die Dorfbewohnerin starrte sie mit offenem Mund an, während der Hund sich in eine regelrechte Hysterie hineinsteigerte.
Erst als sie schon außer Sichtweite war, fiel Fiona ein, dass sie die Frau nach den Abercrombies hätte fragen sollen. Sie war zwar immer noch überzeugt, genau zu wissen, wo das Haus ihrer Familie stand, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein? Womöglich lief sie gerade vergeblich durch das ganze Dorf und musste nachher wieder ans andere Ende zurück.
Schließlich stand sie vor dem Haus am Ende der kleinen Straße, die sich an dieser Stelle verbreiterte
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