Geisterschiff Vallona
kletterten über den Zaun und eilten durch den Wald nach Hause in die Stadt.
Erst als sie sich trennen mussten, an der Wegkreuzung vor dem Haus des Postmeisters – dort, wo heute Simon Eda wohnt –, merkten sie, dass etwas nicht stimmte. Einer fehlte.
Wo war der neue Junge?
Alle Kinder dachten nach, aber keines konnte sich daran erinnern, ihn nach dem allerersten Durchgang ihres Versteckspiels
noch einmal gesehen zu haben.
›Halt, doch‹, sagte einer. ›Ich habe gesehen, wie er weggelaufen ist und sich mit einem Mädchen versteckt hat. Sie hatte ein
Kleid an und rote Schuhe.‹
Wer konnte das gewesen sein? Die Mädchen schauten an sich hinunter. Manche von ihnen trugen ein Kleid. Aber rote Schuhe hatte
keine von ihnen.
Man fand den neuen Jungen am darauffolgenden Tag hinter einer versteckten Luke. Die Luke hatte sich verklemmt und es war pures
Glück, dass jemand das dumpfe Geräusch bemerkte, das von dort nach außen drang. Ein Klopfen. Langsam und rhythmisch gegen
das Metall.
Jemand zog eine Taschenlampe hervor undleuchtete in die kleine Kammer hinein. Da saß er, der neue Junge. Mit starrem Blick kauerte er auf dem Boden und schlug einen
kleinen roten Mädchenschuh gegen die Wand der Kajüte. In dieser Nacht hatte er seinen Verstand verloren. Und das war kein
Wunder, denn eingeklemmt neben ihm lag das Skelett eines kleinen Mädchens, das seit mindestens fünfzig Jahren tot war.
Der neue Junge und seine Familie zogen sehr bald wieder fort. Wohin sie gingen, das wusste niemand. Aber man erzählte sich,
dass die Seele des Jungen dort zurückgeblieben war, zwischen Schiffsrümpfen und Kränen.
Und seither wagt es niemand mehr, auf der alten Werft zu spielen. Manchmal hört man noch immer, wie das Mädchen, das man vergessen
hatte,
Alle frei!
ruft. Und wenn es ganz windstill ist, dann kann man auch das entfernte Pochen aus einem der alten Boote hören, als wollte
die Seele des neuen Jungen erzählen, wo sie ist.
So spielen sie dort zusammen. Und warten darauf, dass jemand kommt und ihnen Gesellschaft leistet …«
Kapitel 6
»Ja, ja«, schloss Schrott-Jansson seine Erzählung. »Es ist nicht leicht, fremd und neugierig zu sein. Gewisse Warnungen sollte
man eben ernst nehmen.«
Für eine ganze Weile legte sich Stille über das Bootshaus.
»Aber Karl«, sagte Sara und kicherte. »Du bist ja ganz blass geworden!«
Da hellte sich auch Schrott-Janssons ernstes Gesicht zu einem Lachen auf.
»Kanntest du die Geschichte noch gar nicht? Hat dein Großvater sie dir nie erzählt?«
Karl schüttelte den Kopf und Sara sah, wie er rot wurde. Da hörte sie auf zu lachen und erklärte, warum sie Spukgeschichten
so schrecklich gerne mochte. Wie spaßig es sein konnte, sich zu fürchten.
Karl lächelte ihr matt zu. Es war nämlich keineswegs nur die Geschichte, die ihm Angstmachte. Während er Schrott-Janssons Erzählung gelauscht hatte, hatte er gemerkt, wie sich die kleine Figur in seiner Tasche
abermals unruhig bewegte.
Vorsichtig ließ er eine Hand in die Hosentasche gleiten, aber auch dieses Mal war die Figur steif und eisig kalt. Karl seufzte
und schluckte. Was ging hier bloß vor sich? Was hatte all das zu bedeuten? Irgendetwas hatte ihn dazu gebracht, in die Sakristei
zu gehen und das Votivschiff zu entdecken. Es war, als hätte ihn etwas dorthin gelockt. Aber was? Und warum?
Es kam ihm vor, als hätte alles in dem Augenblick begonnen, in dem er gegen das Modell der Vallona gestoßen war. Als hätten
eine Menge Dinge schon ungeduldig darauf gewartet, endlich ihren Lauf nehmen zu können. Jetzt hatten sie ihre Chance. Und
nachdem es nun einmal begonnen hatte, ließ es sich auch nicht mehr aufhalten.
War es das, was Doktor Ekwall gemeint hatte, als er sagte, er habe gewusst, dass einer wie Karl kommen würde? Wie hatte er
sich doch gleich ausgedrückt? »Einer von außerhalb, einer, der nichts versteht.« Und just in diesem Moment hatte Karl wirklich
das Gefühl, absolut gar nichts zu verstehen.
Schrott-Jansson steckte sich eine Pfeife an und langsam breitete sich der Duft von Tabak im ganzen Lager aus. Karl mochte
den Geruch. Als er noch ganz klein gewesen war, hatte sein Großvater auch noch geraucht, aber mittlerweile hatte er damit
aufgehört. Jetzt weckte der Pfeifenrauch in Karl Erinnerungen an die Zeit, als sie gemeinsam an Großvaters Boot gearbeitet
hatten.
Es war blau und weiß und hieß Barbarella. Ein altes, in die Jahre
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