Gejagt
immer gab, und ich sah die blutunterlaufenen Schatten unter ihren Augen und die leichte Röte, die noch nicht ganz aus ihren Augäpfeln geschwunden war.
»Du hattest wieder eine Vision.«
Sie nickte.
»Oh, Mist. Bin ich wieder gestorben?« Ich hörte, wie Lenobia entgeistert den Atem einsog. »Ach, lange Geschichte.«
»Nein, du Schwachkopf. Du bist nicht schon wieder gestorben«, sagte Aphrodite. »Aber ich hab ein bisschen was von dem Krieg sehen können – genau dem, den ich schon mal gesehen hab –, nur dass ich dieses Mal die Rabenspötter deutlich erkennen konnte.« Sie erschauerte. »Wusstet ihr, dass sie Frauen vergewaltigen können? Nicht gerade die netteste Vision. Aber egal, jedenfalls versucht Neferet ihren wahnwitzigen Krieg-gegen-die-Menschen-Plan jetzt mit Kalonas Hilfe durchzudrücken.«
»Aber das letzte Mal, als du eine Vision vom Krieg hattest, wurde er dadurch verhindert, dass Zoey gerettet wurde«, sagte Damien.
»Ich weiß. Denk dran, ich bin Vision Girl. Was ich nicht weiß, ist, warum die Verhältnisse sich anscheinend wieder geändert haben, außer, dass jetzt Kalona auch noch mit drinsteckt. Und, na ja, ich spreche das nicht gerade gerne aus, aber Neferet ist komplett auf die dunkle Seite übergewechselt. Sie verwandelt sich in etwas, was anders ist als jede Art von Vampyr, die es meines Wissens je gegeben hat.«
In mir fügte sich etwas zusammen wie zwei Puzzlestücke, und auf einmal wusste ich, was vor sich ging. Meine Stimme klang so aschen, wie ich mich fühlte. »Sie wird zur Tsi-Sgili-Königin. Der ersten Vampyr-Tsi-Sgili. So was hat’s noch nie gegeben.«
»Ja. Genau das hab ich gesehen.« Aphrodite sah bleich aus. »Ich weiß auch, dass der Krieg hier in Tulsa seinen Anfang nehmen wird.«
»Also muss der Rat, den sie beherrschen wollen, derjenige hier im House of Night sein«, sagte ich.
»Rat?«, fragte Lenobia.
»Kann ich jetzt nicht auf die Schnelle erklären. Wir sollten wahrscheinlich froh sein, dass sie nur regional denken und nicht global.«
»Man sollte annehmen, dass der Krieg vielleicht nicht stattfinden würde, wenn wir Kalona und hoffentlich auch Neferet in die Flucht schlagen könnten«, sagte Damien.
»Oder wenigstens nicht hier«, sagte ich. »Und dann hätten wir Zeit, um rauszufinden, wie wir Kalona endgültig loswerden können; dann gäbe es einen weniger, der für den Krieg verantwortlich ist.«
»Es ist Neferet«, sagte Lenobia so tonlos, dass sie fast tot klang. »Sie ist
der
Antriebsfaktor hinter Kalona. Sie wünscht sich schon seit Jahren einen Krieg gegen die Menschen.« Sie sah mir in die Augen. »Vielleicht wirst du sie töten müssen.«
Ich erbleichte. »Töten! Niemals. Das tu ich nicht!«
»Möglicherweise geht es nicht anders«, sagte Darius.
»Nein!«, rief ich noch einmal. »Wenn es meine Aufgabe wäre, Neferet zu töten, hätte ich nicht so ein furchtbares Gefühl im Bauch, wenn ich nur dran denke. Nyx würde mich wissen lassen, dass es ihr Wille ist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es je der Wille der Göttin sein könnte, eine Hohepriesterin zu töten.«
»Exhohepriesterin«, sagte Damien.
»Ist Hohepriesterin denn ein Job, den man verlieren kann?«, wollte Shaunee wissen.
»Ist das nicht so ’n Amt fürs Leben?«, fragte Erin.
»Andererseits, kann man sie noch als Hohepriesterin bezeichnen, wenn sie sich in was anderes verwandelt, zum Beispiel in die Tsi-Sgili-Königin?«, fragte Aphrodite.
»Ja! Nein!«, gab ich wahllos zurück. »Ich weiß es nicht. Lassen wir das Thema ›Neferet töten‹ doch bitte fallen. Ich kann’s einfach nicht.«
Ich sah Lenobia, Darius und Aphrodite einen langen Blick tauschen, den ich sehr bewusst ignorierte. Dann sagte Lenobia: »Zurück zu der Frage, wie ihr hier rauskommt. Ich denke, das ist etwas, was wir jetzt dringend genau wissen sollten.«
»Genau jetzt?«, fragte Shaunee.
»In exakt dieser Sekunde?«, fügte Erin hinzu.
»Je eher, desto besser«, sagte ich. »Ich meine, ich kann eure Elemente spüren und weiß, dass sie eure Gedanken abschirmen, aber die Sache ist, falls Neferet versucht, in euren Geist einzudringen, weiß sie, dass was faul ist, sobald sie gegen eine Wand aus Elementen stößt. Nur halt nicht, was.« Ich sah mich um und erwartete so halb, Neferet wie eine aufgetriebene Geisterspinne in den Schatten schweben zu sehen. »Sie ist mir außerdem schon zweimal als ekliges geisterhaftes Bild erschienen, also würde ich sagen, wir müssen verdammt noch mal
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