Gejagt
Seit letzter Nacht – kurz bevor unsere Handys den Geist aufgegeben hatten – hatte ich nichts mehr von ihr gehört.
Also war es wichtiger, Schwester Mary Angela anzurufen – vorausgesetzt, mein Handy funktionierte wieder –, bevor ich anfing, Damien und Jack zu suchen und abzulösen. Mit dem Vorhaben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, marschierte ich durch den Tunnel zurück in Richtung Kellereingang und Darius, der bestimmt wusste, wo die Jungs postiert waren. Und im Keller hatte mein Handy hoffentlich Empfang – außer wir hatten die Apokalypse hinter uns und die Sendestationen waren auf immer vernichtet. Zum Glück stimmte das Blut mich etwas optimistischer, und selbst die Aussicht auf eine grausige (und abstoßende)
I Am Legend
-artige Welt erschien mir nicht vollkommen hoffnungslos.
Eins nach dem anderen. Immer eins nach dem anderen. Erst würde ich herausfinden, wo Grandma war. Dann würde ich Damien und Jack ablösen. Und dann würde ich mich gedanklich mit diesem abgründigen Albtraum auseinandersetzen.
Ich dachte an die Stimme des dunklen Engels, daran, wie Schmerz und Verlangen irgendwie miteinander verschmolzen waren, als er mich berührt und seine Geliebte genannt hatte. Dann riss ich meine Gedanken gewaltsam davon los. Schmerz konnte nicht gleich Verlangen sein. Was ich in dem Traum gefühlt hatte, war
schlicht und einfach ein Traum
gewesen – und ein Traum (oder Albtraum) definierte sich dadurch, dass er nicht real war. Und ich war ganz bestimmt nicht Kalonas Geliebte.
Ungefähr zu dem Zeitpunkt bemerkte ich, dass die kribbelnde Nervosität in mir teilweise auch aus Angst bestand, aber das hatte nichts mit Kalona zu tun. Durch das viele Nachdenken war mir komplett entgangen, wie sich mein Körper unbewusst angespannt hatte. Mein Herzschlag hatte sich wieder beschleunigt. Mein Magen verknotete sich. Ich hatte das eindeutige, beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden.
Ich wirbelte herum in der Erwartung, zumindest widerlich herumschwirrende Fledermäuse zu sehen – wenn nicht sonst was. Aber da war nur die Totenstille des verlassenen, schummrig erleuchteten Tunnels, der sich weit hinter mir verlor.
»Du drehst noch völlig durch«, sagte ich laut.
Als hätten es meine Worte bewirkt, ging die Laterne direkt neben mir aus.
Grauen packte mich, und ich begann stocksteif rückwärts zu gehen, die Augen weit aufgerissen, um ja zu merken, falls da noch etwas außer meiner Phantasie war. Ich stieß mit dem Rücken an die eiserne Leiter, die in der Tunnelwand verankert war und hinauf in den Bahnhofskeller führte. Schwindelig vor Erleichterung nahm ich die Coladose fest in eine Hand und knautschte die große Doritotüte in der anderen, um einen stabilen Griff zu haben. Ich hatte gerade die ersten Sprossen hinter mir, als von oben ein starker Männerarm erschien und mich zu Tode erschreckte.
»Hier, gib mir die Chips und die Cola. Sonst verlierst du noch den Halt und fällst auf den Hintern.«
Mein Blick flog nach oben zu Erik, der lächelnd auf mich heruntersah. Ich schluckte rasch und warf ihm ein forsches »Danke!« zu. Um die Chips und die Cola erleichtert, war ich in Windeseile oben.
Im Keller war es einige Grad kälter als in den Tunneln, was mein vor Angst gerötetes Gesicht angenehm kühlte.
»Du wirst ja immer noch rot, wenn du mich siehst. Das gefällt mir«, sagte Erik und streichelte mir die heiße Wange.
Mir rutschte fast heraus, dass mich so blöde Schatten und anderer unbestimmbarer Mist in den Tunneln total aus der Fassung gebracht hatten, aber ich sah schon vor mir, wie er mich auslachen und erklären würde, ich hätte mich wieder von Fledermäusen ins Bockshorn jagen lassen. Und wenn ich nur wegen des Traums überempfindlich auf alles reagierte? Wollte ich wirklich mit Erik (oder überhaupt irgendwem) über Kalona reden?
Nein.
Stattdessen sagte ich: »Hier ist es eiskalt, und du weißt genau, dass ich es hasse, wenn ich rot werde.«
»Ja, in den letzten paar Stunden ist die Temperatur total in den Keller gegangen. Draußen ist das Eischaos bestimmt perfekt. Hey, du siehst wirklich süß aus mit diesen roten Wangen.«
Ich lächelte widerwillig. »Du und meine Grandma seid die einzigen zwei Leute auf dieser Welt, die das finden.«
Er schmunzelte und nahm sich einen Dorito. »Na, dann befinde ich mich ja in guter Gesellschaft.«
Derweil sah ich mich im Keller um. Auch hier war alles still, wenn auch nicht so beängstigend still wie in den Tunneln. Erik
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