Gejagt
hatte sich einen Stuhl neben die Falltür gezogen. Daneben standen mehrere hell brennende Öllaternen, eine halbleere Literflasche Mountain Dew (igitt!), und (huch?!)
Dracula
von Bram Stoker mit einem Lesezeichen etwa in der Mitte. Ich hob die Augenbrauen.
»Was denn? Ich hab’s mir von Kramisha ausgeliehen.« Er lächelte ein bisschen verlegen, fast wie ein niedlicher kleiner Junge. »Okay, ich geb’s zu. Du hast mich neugierig auf das Buch gemacht, als du mir damals erzählt hast, dass es eines deiner Lieblingsbücher ist. Ich bin erst halb durch, also sag mir nicht, was weiter passiert.«
Geschmeichelt, dass er nur meinetwegen
Dracula
las, grinste ich ihn an. »Also bitte. Du weißt doch, wie das Buch endet. Jeder weiß, wie es endet.« Es war
so
süß, wie Erik, dieser große, attraktive Kerl, bei dem einem die Knie weich wurden, alle möglichen Bücher las und sich alte
Star-Wars
-Filme anschaute. »Du findest es also gut, hmmmm?«
»Ja. Damit hätte ich nun gar nicht gerechnet.« Sein Grinsen echote meines. »Ich meine, klar, ein bisschen verstaubt ist es schon, von wegen Vampyre sind Monster und so.«
Sofort wanderten meine Gedanken zu Neferet, die für mich auch nichts anderes als ein hübsch verpacktes Monster war, und zu meinen noch immer offenen Fragen, was die roten Jungvampyre anging. Aber ich verbannte all das schnell aus meinem Kopf – ich wollte nicht, dass dieser Augenblick mit Erik von Düsternis überschattet wurde – und konzentrierte mich wieder auf
Dracula
. »Na ja, okay, Dracula wird als Monster dargestellt, aber irgendwie tut er mir leid.«
»Leid?« Erik war sichtlich überrascht. »Er ist doch durch und durch böse, Z.«
»Ich weiß, aber Mina liebt er wirklich. Wie kann jemand, der durch und durch böse ist, jemanden lieben?«
»Hey, so weit bin ich noch nicht! Nichts verraten!«
Ich verdrehte die Augen. »Erik, es kann doch nicht sein, dass du nicht weißt, dass Dracula Mina hinterhersteigt. Er beißt sie, und sie fängt an, sich zu wandeln. Nur wegen Mina kommen die anderen ihm auf die Spur und …«
»Halt!«, rief er lachend, packte mich und hielt mir den Mund zu. »Das war kein Scherz. Ich will wirklich nicht, dass du mir das Ende verrätst.«
Seine Hand lag über meinem Mund, aber ich wusste, dass meine Augen ihn anlächelten.
»Wenn du brav bist, nehme ich die Hand weg. Bist du brav?«
Ich nickte.
Langsam ließ er meinen Mund wieder frei, blieb aber dicht vor mir stehen. Es fühlte sich gut an, ihm so nahe zu sein. Noch immer mit einem kleinen Lächeln im Mundwinkel sah er mich an. Mir wurde mal wieder bewusst, wie atemberaubend er war und wie froh ich war, dass wir wieder zusammen waren. »Soll ich dir erzählen, wie ich mir das Ende des Buches
wünschen
würde?«
Er hob die Augenbrauen. »Wünschen? Das heißt, du erzählst mir nicht das reale Ende?«
»Hand aufs Herz.« Automatisch legte ich mir die Hand aufs Herz. Wir standen so dicht voreinander, dass ich dabei seine Brust streifte.
»Dann erzähl’s mir.« Er sprach jetzt ganz leise, nur für mich allein.
»Ich wünschte, Dracula hätte sich Mina nicht wegnehmen lassen. Er hätte sie beißen und ihr klarmachen sollen, wie sehr er sie liebt, und dann hätte er sie mitnehmen sollen, damit sie für immer und ewig zusammen sein können.«
»Weil sie ebenbürtig gewesen wären und zusammengehört hätten.«
Ich sah ihm in die unwahrscheinlich blauen Augen, aus denen jede Witzelei verschwunden war.
»Ja, selbst wenn in der Vergangenheit dumme Sachen zwischen ihnen passiert sind. Das hätten sie einander verzeihen müssen, aber ich glaube, sie hätten es gekonnt.«
»Ich weiß. Ich glaube, wenn man sich nur genug liebt, kann man einander alles verzeihen.«
Mir war klar, dass wir nicht mehr über fiktive Charaktere in einem alten Buch redeten. Es ging um uns, um ihn und mich. Wir prüften einander, ob wir es tatsächlich hinkriegen würden.
Ich musste Erik verzeihen, wie mies er sich nach der Sache mit Loren verhalten hatte. Aber so mies er gewesen war, tatsächlich hatte ich ihn noch viel mehr verletzt als er mich – und nicht nur mit Loren. Als ich mit Erik zusammengekommen war, hatte ich noch was mit meinem menschlichen Freund Heath am Laufen gehabt. Erik war furchtbar sauer gewesen, dass ich mit ihm und Heath gleichzeitig zusammen gewesen war, aber er hatte daran geglaubt, dass ich schließlich zur Vernunft kommen und begreifen würde, dass Heath zu meiner alten Welt, meinem alten Leben, gehörte
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