Gejagt
lesen konnte, murmelte ich: »Geist, ich brauche dich«, und spürte den kleinen innerlichen Hüpfer, als das Element mir gehorchte. Bevor ich in Versuchung geriet, meinen Plan zu ändern und die stärkende Wirkung des Geistes für mich zu behalten, flüsterte ich schnell: »Geh zu Aphrodite«, und hörte, wie sie scharf die Luft einsog, als das Element sie erfüllte. In der Gewissheit, dass meine Freunde so gut geschützt waren, wie es nur ging, wandte ich mich unserer verderbten Hohepriesterin zu. Ich wollte schon den Mund aufmachen, um zu bemerken, wie ironisch es war, dass gerade sie einen biblischen Vergleich wählte, da öffnete sich eine Tür ein paar Schritte weiter den Gang entlang, und
er
trat heraus.
Darius hielt so abrupt an wie ein Hund, dessen Leine zu Ende war.
»Oh«, hauchte Shaunee.
»Aaaaach du Scheiße«, seufzte Erin.
»Nicht in seine Augen schauen!«, hörte ich Aphrodite flüstern. »Schaut ihm auf die Brust.«
»Das ist nicht schwer«, wisperte Damien.
»Bleibt stark«, sagte Darius leise.
Dann schien die Zeit sich unendlich zu dehnen.
Stark bleiben
, redete ich mir zu.
Stark bleiben.
Aber ich fühlte mich nicht stark. Ich war erschöpft und verletzt und vollkommen platt. Neferet schüchterte mich ein. Sie war einfach so perfekt und mächtig. Und Kalona ließ mich spüren, wie unbedeutend ich war. Neben den beiden war ich ein Winzling, und mein Kopf schwirrte in einer Kakophonie von Gedanken. Ich war noch so jung. Himmel, ich war noch nicht einmal eine ausgereifte Vampyrin. Wie konnte ich hoffen, gegen diese beiden unvergleichlichen Geschöpfe zu bestehen? Und wollte ich überhaupt gegen Kalona kämpfen? Wussten wir denn hundertprozentig sicher, dass er wirklich böse war? Ich blinzelte, um meinen verschwommenen Blick zu klären, und betrachtete ihn. Er sah kein bisschen böse aus. Er trug Hosen, die aus demselben cremefarbenen Hirschleder gemacht zu sein schienen wie echte Mokassins. Seine Füße waren nackt, und sein Oberkörper auch. Hört sich vielleicht ein bisschen bescheuert an, dass er da halbnackt in dem Gang stand, aber es wirkte alles andere als bescheuert. Es wirkte richtig. Er war einfach nur unglaublich! Seine Haut zeigte keinerlei Makel und hatte jenen golden gebräunten Schimmer, den weiße Mädchen immer haben wollen, wenn sie sich im Solarium rösten, was aber nie klappt. Sein Haar war dicht und pechschwarz, zwar lang, aber nicht so lächerlich lang wie etwa das von Fabio Lanzoni. Es war ein bisschen verstrubbelt und hatte eine schöne Welle. Je länger ich es betrachtete, desto lebhafter stellte ich mir vor, mit den Fingern hindurchzufahren. Ungeachtet der Warnung, die Aphrodite uns gegeben hatte, sah ich ihm direkt in die Augen – und ein fast elektrischer Schock durchzuckte mich, als seine Augen sich im Wiedererkennen weiteten, und dieser Schock schien mir noch mehr von meiner kaum vorhandenen Kraft zu rauben. Ich ließ mich zurück in Darius’ Arme sinken, so schwach, dass ich kaum den Kopf heben konnte.
»Sie ist verwundet!«, hallte Kalonas Stimme durch den Gang. »Warum kümmert man sich nicht um sie?«
Ich hörte das scheußliche Geräusch großer schlagender Flügel, und dann trat Rephaim aus dem Zimmer, das Kalona verlassen hatte. Ich erschauerte, als mir klar wurde, dass der Rabenspötter von außen zum Fenster geflogen und hereingeklettert sein musste.
Gab es denn keinen Ort über der Erde, wo diese Dinger nicht hinkamen?
»Vater, ich habe dem Krieger befohlen, die Priesterin zur Krankenstation zu bringen, damit sie ordentlich versorgt werden kann.« Im Gegensatz zu Kalonas göttlicher Stimme klang Rephaims unnatürliches Schnarren noch obszöner.
»So ein Schwachsinn!«
Mit offenem Mund starrte ich Aphrodite an, die den Rabenspötter mit ihrem höhnischsten Lächeln bedachte. Sie warf ihr volles blondes Haar zurück und fuhr fort: »Der Vogelkerl hat uns da draußen im eisigen Regen aufgehalten und wollte irgendwas von wegen die Rote hier, die Rote dort. Nur gut, dass Darius es geschafft hat, Zoey trotz seiner
Hilfe
herzubringen.« Das Wort ›Hilfe‹ setzte sie mit den Fingern in Anführungszeichen.
Im Gang herrschte erst mal vollkommene Stille. Dann warf Kalona seinen herrlichen Kopf zurück und fing an, schallend zu lachen. »Ich hatte ganz vergessen, wie amüsant menschliche Frauen sein können.« Mit einer geschmeidigen Handbewegung lud er Darius ein, näher zu treten. »Bring die junge Priesterin hinein, damit sie behandelt werden
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