Gejagte Der Dämmerung -9-
letzten Mal zu Hause gewesen war, hatte es die noch nicht gegeben.
War das nur ein Zeichen dafür, dass die ganzen Stadt mittlerweile ein gefährliches Pflaster geworden war, oder hatte ihr unbezwingbarer Vater sich nach ihrem Verschwinden so gefährdet gefühlt, dass er sich mit dem Rest seiner Familie in einem eigenen Privatgefängnis verschanzt hatte? Was immer der Grund war, beim Anblick der hässlichen Barriere, die dieses einst so friedliche Anwesen nun umgab, zog sich ihr vor Schuldgefühlen und Trauer das Herz zusammen.
Hinter dem festungsartigen Tor, am Ende der langen, kopfsteingepflasterten Einfahrt, stand das stattliche Anwesen, ein Backsteinbau im klassizistischen Stil, und durch die zugezogenen Vorhänge vieler Fenster drang ein schwacher Lichtschein. Die hohen Eichen, die die Einfahrt säumten, waren in ihrer Abwesenheit alt und mächtig geworden, ihre winterlich nackten Äste wuchsen hoch über dem Boden aufeinander zu und bildeten einen schützenden Baldachin. Weiter vorn, auf halber Strecke des weitläufigen Rasens, der sich vor dem riesigen Haus erstreckte, war der Springbrunnen aus Kalkstein mit seinem Wasserbecken, an dem sie und ihre jüngere Adoptivschwester Charlotte als kleine Mädchen in den heißen Sommern immer gespielt hatten, inzwischen durch dekorative Felsbrocken und Formschnitthecken ersetzt worden, die jetzt mit Jutesäcken abgedeckt waren.
Wie riesig ihr das Grundstück damals als Kind vorgekommen war, und wie magisch diese abgeschiedene Welt.
Wie schrecklich, dass ihr das alles nur ein paar Jahre später völlig selbstverständlich geworden war. Als eigensinnige junge Frau hatte sie damals kaum erwarten können, von hier wegzukommen, und zwar so weit weg wie möglich.
Jetzt wollte sie wieder hinein, mit einer Sehnsucht, die an Verzweiflung grenzte.
Corinne hob die Finger an den Mund, ein kleines Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich wirklich wieder hier bin. Dass ich zu Hause bin.«
Impulsiv langte sie nach dem Türgriff und ignorierte das leise Knurren ihres stoischen Begleiters auf dem Fahrersitz. Corinne kletterte aus dem Wagen und ging ein paar Schritte auf das eiserne Einfahrtstor zu. Ein eisiger Windstoß fuhr über die verschneite Landschaft und wehte ihr ins Gesicht, sodass sie sich etwas tiefer in ihren dicken Wollmantel schmiegte.
Hinter ihr spürte sie plötzlich ein Hitzefeld, das sich ihr näherte, und wusste, dass Hunter ihr gefolgt war. Sie hatte nicht einmal gehört, dass er aus dem Wagen gestiegen war, so verstohlen bewegte er sich. Seine Stimme hinter ihr war leise und tief. »Du solltest im Wagen bleiben, bis ich dich sicher zur Tür gebracht habe.«
Corinne trat von ihm weg, ging zum geschlossenen Einfahrtstor und berührte die hohen Gitterstangen. »Weißt du, wie lange ich weg gewesen bin?«, murmelte sie. Hunter antwortete nicht, stand nur schweigend hinter ihr. Sie schloss die Finger um das kalte Eisen und stieß ein leises, freudloses Lachen aus. »Letzten Sommer waren es fünfundsiebzig Jahre. Kannst du dir das vorstellen? So viel von meinem Leben hat man mir gestohlen. Meine Familie da drüben in dem Haus … die denken alle, ich sei tot.«
Die Vorstellung tat ihr weh, was ihre Eltern und Geschwister nach ihrem Verschwinden durchgemacht haben mussten. Nach ihrer Entführung hatte Corinne sich Sorgen gemacht, wie ihre Familie wohl damit zurechtkam, und sich lange an die Hoffnung geklammert, dass man nach ihr suchen würde – dass ihre Familie nicht ruhen würde, bis sie sie gefunden hatte, besonders ihr Vater. Schließlich war Victor Bishop in der Vampirgesellschaft ein bedeutender Mann. Schon damals war er vermögend gewesen und hatte über gute Beziehungen verfügt. Er hatte alle Mittel besessen, also warum hatte er seine Stadt nicht auf den Kopf gestellt und jeden Stein umgedreht, bis er seine Tochter gefunden und nach Hause gebracht hatte?
Diese Frage hatte sie jede Stunde ihrer Gefangenschaft beschäftigt. Was sie damals noch nicht gewusst hatte, war, dass ihr Entführer Vorkehrungen getroffen hatte, um ihre Familie und alle, die sie kannten, davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr am Leben war. Brock, der in ihrer Kindheit, lange vor seiner Zeit als Ordenskrieger, ihr Bodyguard gewesen war, hatte sie nach ihrer Rettung beiseitegenommen und ihr alles erzählt, was er von ihrem Verschwinden wusste. Obwohl er sich große Mühe gegeben hatte, ihr die Fakten so schonend wie möglich beizubringen, waren
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