Gejagte Der Dämmerung -9-
die Details, die er ihr enthüllt hatte, entsetzlich.
»Ein paar Monate nach meiner Entführung wurde unweit von hier eine Frauenleiche aus dem Fluss gezogen«, sagte sie leise zu Hunter, mit Abscheu in der Stimme. »Sie war so alt wie ich, gleich groß und hatte die gleiche Figur. Jemand hatte ihr meine Sachen angezogen, das Kleid, das ich in der Nacht meiner Entführung getragen hatte. Und das war noch nicht alles. Ihre Leiche …«
»War verstümmelt worden«, beendete Hunter den Satz, als sie nicht weitersprechen konnte. Sie drehte sich fragend zu ihm um. Er sah sie nüchtern an. »Brock hat mir von deiner Entführung erzählt. Ich bin auf dem Laufenden darüber, wie die Leiche manipuliert wurde, um die Identität des Opfers zu vertuschen.«
»Manipuliert«, antwortete Corinne. Sie senkte ihr Kinn und runzelte die Stirn über ihrer rechten Hand mit dem Muttermal, das sie als Stammesgefährtin auswies. »Um meine Familie davon zu überzeugen, dass ich die Tote war, haben ihr der oder die Mörder Hände und Füße abgehackt. Sogar den Kopf.«
Ihr Magen hob sich beim Gedanken an die Grausamkeit – die abgrundtiefe Schlechtigkeit, die jemand besitzen musste, um einem anderen Menschen so etwas anzutun.
Aber natürlich waren die Dinge, die Dragos ihr und den anderen in seinem Labor eingekerkerten Stammesgefährtinnen angetan hatte, fast genauso abscheulich gewesen. Corinne schloss fest die Augen unter dem Ansturm der Erinnerungen, die jetzt wie Fledermäuse aus der Dunkelheit auf sie einstürmten: Nasskalte Betonzellen. Kalte Stahltische mit dicken Ledergurten, aus denen es kein Entkommen gab. Die ständigen Spritzen, Blut- und Gewebeproben und Untersuchungen. Endlose Schmerzen, Wut und absolute, bodenlose Hoffnungslosigkeit.
Das schreckliche, herzzerreißende Heulen der Wahnsinnigen und Sterbenden, und die anderen, die irgendwo dazwischen vor sich hindämmerten.
Und Blut.
So viel Blut – ihr eigenes und das anderer, mit dem sie und auch die anderen entführten Frauen regelmäßig zwangsgefüttert wurden, sodass sie jung und für Dragos’ perverse Zwecke langfristig einsetzbar blieben.
Corinne schauderte und schlang die Arme um die tiefe, kalte Leere, die sich in ihrem tiefsten Inneren ausbreitete. Es war ein dumpfer Schmerz, gegen den sie schon seit sehr langer Zeit ankämpfte und der in den Tagen seit ihrer Rettung nur noch weiter in ihr aufgebrochen war.
»Es ist kalt«, sagte ihr stoischer Begleiter aus Boston. »Du solltest dich wieder in den Wagen setzen, bis ich dich sicher im Haus abliefere.«
Sie nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Jetzt, da sie hier stand – jetzt, da der Augenblick, für den sie so lange gebetet hatte, endlich wahr wurde, wusste sie nicht, ob sie den Mut hatte, sich ihm zu stellen. »Sie denken alle, ich sei tot, Hunter. Diese ganze lange Zeit habe ich für sie nicht mehr existiert. Was, wenn sie mich vergessen haben? Wenn sie ohne mich glücklicher gewesen sind?« Ihre Zweifel drückten sie nieder. »Vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, sie zu kontaktieren, bevor ich Boston verlassen habe. Vielleicht war es doch keine so gute Idee herzukommen.«
Sie drehte sich zu ihm um und hoffte, er würde ihr irgendwie Mut machen und sagen, dass ihre Ängste unbegründet waren. Sie wollte ihn sagen hören, dass ihr eben einfach nur die Nerven durchgingen – irgendetwas Tröstendes, wie Brock es zu ihr gesagt hätte, wenn er jetzt bei ihr gewesen wäre. Aber Hunters Miene war unergründlich, und seine goldenen Falkenaugen starrten sie unverwandt an. Corinne stieß einen leisen Seufzer aus. »Was würdest du tun, wenn das in diesem Haus da drüben deine Familie wäre, Hunter?«
Unter seinem schwarzen Ledermantel hob er eine massige Schulter. »Ich habe keine Familie.«
Er sagte das so nebenbei, als machte er nur eine Bemerkung darüber, dass es eben dunkel war. Als stellte er lediglich das Offensichtliche fest und wollte keine Nachfragen anregen, was aber nur dazu führte, dass sie mehr über ihn wissen wollte. Es fiel ihr schwer, sich ihn anders als diesen nüchternen, fast grimmigen Krieger vorzustellen, der da vor ihr stand. Es fiel ihr schwer, sich ihn mit einem runden Kindergesicht vorzustellen statt mit diesen scharfen Wangenknochen und dem unversöhnlichen, kantigen Kinn. Sie konnte sich ihn nicht ohne die schwarze Kampfmontur und das Arsenal von Klingen und Schusswaffen vorstellen, die in den Falten seines langen Mantels glänzten.
»Aber du musst doch Eltern
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