Gejagte der Nacht
Augen. Die gleiche Rechtfertigung hatte er sich im Lauf der Jahrhunderte tausend- und abertausendmal anhören müssen. Zum Teufel, ein- oder zweimal hatte er sie sogar selbst verwendet. Und es handelte sich stets um nichts anderes als eine faule Ausrede.
»Versucht es noch einmal.«
Sein Gesicht nahm einen verkniffenen Ausdruck an. Seine Verärgerung war echt. »Es ist so einfach, edel zu sein, wenn Eure Gefährtin sicher in Eurem Bett liegt.« Gaius reckte das Kinn vor, und sein Blick war herausfordernd. »Aber sagt mir, Anasso, wie weit würdet Ihr gehen, um dafür zu sorgen, dass sie dort bleibt? Wäre irgendein Verrat zu groß, wenn Ihr sie dafür wieder in Euren Armen halten könntet?«
KAPITEL 15
S tyx verdrängte die anklagenden Worte. Er konnte es sich nicht leisten, Mitleid mit dem Verräter zu haben. Nicht wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel stand.
»Niemand von uns kann den Verlust nachvollziehen, den Ihr erlitten habt, doch Dara war nicht die einzige Person, die auf Euch angewiesen war«, entgegnete er, in dem Versuch, die uralten Loyalitätsgefühle des anderen Vampirs zu wecken. Womöglich war es ja noch nicht zu spät, den einstmals ehrenhaften Clanchef an sein Pflichtgefühl zu erinnern.
»Meinem Clan erging es besser ohne mich.«
»Und wie sieht es mit Eurem Sohn aus?«
Gaius erstarrte, und seine Augen verdunkelten sich. In ihnen war ein Gefühl des unendlichen Verlustes zu erkennen – von der Art, die einen Mann vernichten konnte.
»Santiago?«
»Also habt Ihr ihn noch nicht vollkommen vergessen.«
»Natürlich nicht.« Gaius umklammerte das Medaillon so fest, dass seine Fingerknöchel sich weiß verfärbten. »Er ist mein Kind. Und er wird es immer sein.«
Styx musste seine Verachtung nicht vortäuschen. Nicht, nachdem er persönlich erlebt hatte, was nach Gaius’ abrupter Abreise hinter den Schleier mit Santiago geschehen war.
»Ein Vater lässt sein Kind nicht im Stich.«
Gaius runzelte die Stirn, sichtlich bewegt von der Erinnerung daran, dass er sein eigenes Kind zurückgelassen hatte. »Ich konnte es nicht zulassen, dass er durch meinen Handel mit dem Fürsten der Finsternis besudelt wurde.«
»Stattdessen habt Ihr zugelassen, dass er der Sklave eines der bösartigsten Vampire wurde, denen zu begegnen ich das Unglück hatte?«, stieß Styx mit rauer Stimme hervor, als er sich Santiagos zerschmetterten, blutenden Körper ins Gedächtnis rief, den er in den Kampfhöhlen in den Tiefen von Barcelona gefunden hatte. »Er machte ihn zu einem Gladiator. Santiago war gezwungen, jede Nacht in den Bluthöhlen zu kämpfen, nur um zu überleben.«
»Ich nehme an, Ihr erschlugt seinen Drachen und wurdet zu seinem Helden?«, versuchte Gaius zu spotten.
»Wäre es Euch lieber, ich hätte ihn im Stich gelassen, wie Ihr es getan hattet?«
Gaius zuckte zusammen, und er wandte den Blick von Styx’ anklagender Miene ab. »Nein.«
Styx senkte sein Schwert, doch er war nicht töricht genug, um sich dem unruhigen Vampir zu nähern. »Gaius, es ist nicht zu spät, Eure Ehre wiederherzustellen«, drängte er.
Gaius schauderte. »Es ist später, als Ihr es Euch überhaupt vorstellen könnt.«
Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür hinter Styx, und eine Frau mit kurzen, stacheligen roten Haaren und schwarzen Augen kam in die Zelle geeilt. Es war Laylah, der Dschinnmischling und Maluhias Mutter.
»Das Baby ist verschwunden«, verkündete sie. Ihr Gesicht war weiß und ließ eine Mischung aus Schock und Angst erkennen.
Verdammt.
Er hatte doch gewusst, dass Gaius nur als Ablenkung fungierte.
»Wie?« Styx hielt sich nicht mit Sentimentalitäten auf. Die Leute kamen nicht zu ihm, um getröstet zu werden. Sie kamen zu ihm, weil sie Resultate erwarteten.
»Ich weiß nicht.« Laylah bemühte sich, ihre Panik zu bändigen. »Ich habe Maluhia in den Armen gehalten, als er mir plötzlich entrissen wurde. Er«, sie hob hilflos die Hände, »ist einfach verschwunden.«
»War es Magie?«
»Ich glaube nicht.« Laylah schüttelte den Kopf und drehte sich um, um eine Hand nach dem männlichen Vampir mit den polynesischen Gesichtszügen und dem dunklen Isokesenschnitt auszustrecken, der in den Raum geeilt kam.
Hinter Tane erschien eine Vampirin, eine schöne schlanke Frau mit langem dunklem Haar und schräg stehenden blauen Augen.
»Ich konnte die Hände fühlen, die Maluhia packten«, fuhr Laylah mit brechender Stimme fort. »Und ich bin sicher, dass es da irgendeinen Luftzug gab, als ich durch
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