Gekapert
leisten, die Ereignisse objektiver zu beurteilen, er ist weit entfernt vom Schauplatz der Bombenangriffe und hat Dajaal nicht persönlich gekannt. Vielleicht ist man, wenn man einmal in einer Stadt im Bürgerkrieg gelebt hat, so von der unmittelbaren Situation besessen, daß man alles andere fast vollständig ausklammert, wohingegen jemand wie Ahl, der sich außerhalb dieser angespannten Lage befindet, den Luxus des Überblicks, eine völlig andere Sicht auf die Dinge hat. Im Augenblick ist Malik so mit Dajaals Tod beschäftigt, darüber nachzudenken und zu schreiben, daß er an die Äthiopier erinnert werden muß, die ihre Tentakel nach strategischen Standorten in Mogadischu ausstrecken.
Malik beendet das Gespräch und widmet sich wieder seinem Artikel. Kaum hat er einen ersten Entwurf fertig und abgespeichert, da ruft Qasiir an.
Malik spricht ihm sein herzlichstes Beileid aus. »Am besten läßt du es ein paar Tage ruhig angehen«, sagt er dann, »du brauchst Zeit, um deinen Großvater zu betrauern. Ein wunderbarer Mensch.«
»Ich würde Opa enttäuschen und sein Andenken entehren, wenn ich mein Leben nicht weiterführte wie vorher – und mich den bevorstehenden Aufgaben widmete.«
Malik ist schockiert und beeindruckt, schockiert, weil er sich nicht vorstellen kann, daß er fähig wäre, so bald nach dem vorzeitigen Tod des geliebten Großvaters wieder zu funktionieren, beeindruckt, weil nur Pragmatiker, die das Leben als das nehmen, was es ist – ein Darlehen, das wie alle Darlehen zurückgezahlt werden muß –, jeden Augenblick davon genießen, im Bewußtsein der Notwendigkeit, Essen auf den Tisch zu bringen, Wasser aus dem Brunnen zu holen, die Tiere zu weiden, die Kranken zu pflegen, damit andere Menschen weiterleben können. Er fühlt sich beschämt, denn er glaubt nicht, daß er für jemanden das tun könnte, was Qasiir für ihn tut.
»Warum kommst du dann nicht rüber?« fragt er.
Qasiir kommt. Umarmungen, Beileid, Trauer.
Seine Beschreibung des Attentats ist prägnanter als Cambaras. Offensichtlich wurde Dajaal auf seinem Weg in die Moschee von einem Mann verfolgt. Dajaal war noch fünfzig Meter vom Gotteshaus entfernt, da zog der Attentäter seine 55er Magnum und schoß ihm in den Hinterkopf; eindeutig ein Anschlag, daran konnte kein Zweifel bestehen, der Tod trat sofort ein. Malik ist erleichtert, daß Qasiir ihm weitere blutige Details erspart. »Opa ist tot«, sagt Qasiir bedächtig, »und ich weiß, wer dafür bezahlen wird. Leben um Leben. Heute erledigen wir, was ansteht, und irgendwann in der Zukunft wird der Attentäter für das bezahlen, was er getan hat. In der Zwischenzeit warte ich den rechten Augenblick ab und lebe mein Leben, wie ich es für angebracht halte und es Opa, wenn er noch am Leben wäre, gefallen hätte, und vertraue auf eine somalische Weisheit – die Schuhe eines Toten sind nützlicher als er.«
Malik kennt das Sprichwort nicht. In der arabischen Tradition ist er allerdings bewandert, da er mit arabischen Gedichten aufgewachsen ist, besonders jenen aus vorislamischer Zeit, auch als Dschahiliyya bekannt – die Zeit der Unwissenheit. Im Stillen rezitiert er ein paar Verse von Imru’ al-Qais, zweifellos dem besten arabischen Dichter aller Epochen, Sohn eines Sultans, der anläßlich der Ermordung seines Vaters seinen berühmten Ausspruch tat, zynische Worte, die in den arabischen Volksschatz eingegangen sind. Auf die Frage, wann er seinen Vater rächen würde, antwortete al-Qais: »Heute ist die Zeit zu trinken, morgen die Zeit der Rache.« Malik fragt sich, ob Qasiir sich mit dem Töten Zeit lassen, es unauffällig tun wird, denn laut Cambara ist er nicht der Typ, der überstürzt handelt.
Jetzt, da er Einblick in Qasiirs Gedankenwelt erhalten hat, bereitet es Malik Unbehagen, mit ihm allein zu sein. Sein Blick schweift ab, er erträgt den Anblick von Qasiirs bleichem Gesicht nicht, was von dem Wunsch zeugt, den Schmerz eines Trauernden nicht mit ansehen zu müssen. Im darauffolgenden langen Schweigen zappelt er herum, kocht Tee und bietet an, etwas zu essen zu machen. Als Qasiir sagt, daß er keinen Appetit habe, schlägt er eine Spazierfahrt vor. Er findet die Wohnung zu klein für sie beide.
»Wohin?« fragt Qasiir.
Malik hat sich schon die ganze Zeit gefragt, zu welchen Veränderungen das Politikkarussell geführt hat, nachdem die Union nun von den Äthiopiern und der Übergangsregierung ersetzt worden ist. Seiner Meinung nach ist der Bakaaraha-Markt am
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