Gekapert
Der Wind.«
Der Bursche ist nicht überzeugt.
»Und deine Klamotten, wo sind deine Klamotten?«
»Drinnen.«
Grünschnabel überlegt, wie er jetzt weiter vorgehen soll und welche Folgen sich ergeben, wenn es sich herausstellt, daß der Alte tatsächlich in dem Haus wohnt. Er starrt den Mann an, überlegt, wie er ihn dazu bringen kann, zu verschwinden, ehe das Vorauskommando eintrifft. Er könnte sich wie ein echter Aufständischer verhalten – erst schießen und später sagen, daß er diesen minderwertigen Herumtreiber im Garten gefunden hat, darauf beharren, daß dieser sich hier eingenistet hat. Zwar gefällt ihm die Vorstellung, den Alten zu erschießen, nicht, aber was soll er dem Anführer der Zelle sagen?
»Ich heiße Dhoorre«, sagt der Alte und seine ausgestreckte Hand wartet darauf, die des Burschen zu schütteln. Als dieser nicht reagiert, sagt er: »Verrate mir wenigstens deinen Namen.«
Er macht einen raschen Schritt auf den Burschen zu und einen weiteren Schritt in Richtung Haustür. Die Halsmuskeln des Burschen spannen sich an, sein Unterkiefer versteift sich, seine ganze Haltung bekommt etwas Drohendes. Er hebt die AK -47 und stellt den Sicherungshebel auf vollautomatisch. Diese Bewegung verleiht ihm die Gelassenheit eines Boxers, der soeben in der zweiten Runde einen K.o .- Sieg erzielt hat.
»Wenn ich du wäre, würde ich jetzt keine Dummheiten machen«, sagt der Bursche. »Wäre ein Fehler, mich für einen Trottel zu halten. Eine blöde Bewegung und du bist tot.«
In Dhoorres Kopf tauchen neue Sorgen auf, drängen sich zusammen, wie eine Schar leichtbekleideter Menschen, die im Sommer von einem Frostausbruch überrascht wird. So nah ist Dhoorre in seinen mehr als siebzig Lebensjahren der Gefahr noch nie gekommen. Er streicht sich mit der Hand über den Kopf, glättet das verbliebene Haar, ein Kopf, dem es sowohl an Haaren als auch an guten Einfällen mangelt. Wie soll er seinen Friedensappell einem jungen Verstand nahebringen, der nur Gewalt kennt? Er tritt noch näher an den Burschen heran, hat keine Angst mehr.
»Los doch«, sagt er. »Mach schon. Schieß.«
»Ich schieße erst, wenn es nicht anders geht«, sagt der Bursche.
Sie verfallen in einen ruckartigen, schlecht choreographierten Tanz.
»Wo klemmt’s denn?« fordert ihn Dhoorre heraus.
»Eine falsche Bewegung und du bist tot.«
Einander umkreisend, ringen sie um die vorteilhaftere Position, und plötzlich steht Dhoorre mit dem Rücken zur Tür. Nur noch einen Schritt rückwärts und er wäre im Haus drin, der Bursche draußen. Aber was dann?
»Warum bist du hier, und warum trägst du eine Waffe?«
»Ich bin nicht befugt, dir das zu sagen.«
Das Wort befugt aus dem Mund eines derartigen Grünschnabels versetzt Dhoorre einen Schreck. Vielleicht ist das einer von diesen Burschen, von denen er gehört hat – jene Jugendliche, die für eine höhere Sache ausgebildet werden, und auch wenn sie ihre Anweisungen von Erdlingen erhalten, ihre Taten göttlicher Eingebung zuschreiben. Er hat von solchen Burschen gehört, die von der Al-Schabaab entführt und dann zu Selbstmordattentätern ausgebildet werden, Burschen und ein paar Mädchen, die sich als großen Idealen verpflichtete Märtyrer sehen. Was kann dieser Bursche wollen? Oder vielmehr: Was wollen seine Befehlshaber? Und warum hier, warum er und seine Familie? Er muß den Burschen von der Vorstellung abbringen, daß er, Dhoorre, Glaubensideale schlecht findet.
»Ich stehe deiner Sache nicht feindlich gegenüber«, sagt Dhoorre.
Ihre Blicke treffen sich, der des Burschen bestrebt, sich einen Reim auf die plötzliche Freundlichkeit des alten Mannes zu machen. In Dhoorres Blick schleicht sich gewitzte Gerissenheit, sein Verhalten wird zuversichtlicher. »Sag mir, was getan werden soll, und ich mache es.«»Entspann dich einfach«, sagt der Bursche. »Das reicht schon.«
»Wie soll ich mich entspannen, wenn du mir nicht sagst, warum du hier auf unserem Grundstück bist, mit einem Gewehr? Mich zu erschießen drohst, einen Mann, der so alt wie dein Großvater ist, wenn du noch einen hast?« fragt Dhoorre.
»Euer Grundstück, sagst du? Zu wievielt wohnt ihr hier denn?«
»Mein Sohn, seine Familie und ich.«
Grünschnabels Handy unterbricht die Unterhaltung. Er zuckt entsetzt zusammen. Vielleicht steht das Vorauskommando, das die Zentrale geschickt hat, bereits vor dem Tor, und wartet darauf, eingelassen zu werden. Mit sich überschlagender Stimme sagt er mehrmals »Ja,
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