Gekapert
die mit einem Geschäft das magere Familieneinkommen aus der Wohlfahrtsunterstützung aufbessern wollten. Der Plan zahlte sich für den Pakistaner aus, und er bekam seine Investition wieder herein. Ahl weiß nicht, ob die Behauptung, daß seine Mieten über dem Marktpreis liegen, wahr oder bloß somalischer Tratsch und Klatsch ist, jedenfalls ist das Unternehmen eindeutig ein Erfolg. Im engen Labyrinth der Gänge verkaufen somalische Händler Kleider und Andenken aus Somalia sowie Waren, die hauptsächlich aus der Region des Arabischen Golfs und dem indischen Subkontinent stammen. Somalier, die kein Englisch sprechen, keine Ausbildung und keine Möglichkeit haben, Arbeit zu finden, haben hier Restaurants, Friseur- und Musikläden und Geschäfte für somalische DVD s eröffnet.
Dieses rein somalische Einkaufszentrum hat sich zu einem Nachrichtenaustauschplatz entwickelt, der von vielen Somaliern aufgesucht wird, die Neuigkeiten aus ihrer Heimat erfahren wollen. Die Betreiber des Einkaufszentrums haben sich darauf geeinigt, weder BBC noch CNN einzuschalten, weil sie befürchten, die Nachrichtensendungen könnten Unruhen auslösen, deshalb laufen nur Sportsender.
Ahl geht durch die engen, von Leuchtstoffröhren hell erleuchteten Gänge. Er kommt an einem Reisebüro vorbei, einem Stoffgeschäft und Läden, die sich auf Schmuck aus der Golfregion spezialisiert haben. Ein großes Geschäft mit einem Metallgitter davor verspricht, Geld in weniger als 24 Stunden in die Hände des Empfängers zu überweisen, egal wo in Somalia sich dieser befindet.
Die Treppe hoch in den ersten Stock, an zwei weiteren Läden vorbei, und dann erreicht Ahl das Geschäft. Der Besitzer hängt laut redend am Telefon – Somalier haben die Angewohnheit, bei Ferngesprächen mit ohrenbetäubender Lautstärke zu sprechen, je größer die Entfernung, desto lauter die Stimme. Passanten bleiben stehen und glotzen, gehen dann weiter, viele schütteln den Kopf, obwohl sie bei ihren Ferngesprächen genauso schreien wie dieser Mann.
Während Ahl wartet, wird die Stimme des Mannes sekündlich lauter, dann beendet er das Gespräch abrupt und schweigt. Er wendet sich Ahl zu, begrüßt ihn herzlich und öffnet dann eine Schublade, aus der er ein Stück Papier nimmt, auf dem Telefonnummern stehen. Die Lippen des Mannes bewegen sich, wie bei einem Kind, das ein neues Wort buchstabieren lernt, und dann sagt er mit normaler Stimme: »Hier sind die Nummern, die du haben wolltest.«
Ahl nickt. »Danke.«
»Ich habe gerade eben mit Warsame gesprochen«, sagt Neunzigdezibel. »Es ist alles in Ordnung, wie versprochen.«
Ahl ist erleichtert, daß ihn Neunzigdezibel nicht mit den Namen von Yusurs Verwandten verwirrt, die er eigentlich kennen sollte; wenn er es vermeiden kann, wird er sich aus der somalischen Politik raushalten, es sei denn, die Situation verlangt es. Er starrt auf die Namen auf dem Stück Papier, das aus einem Schulheft herausgerissen wurde, und ihm ist bewußt, daß er hier auf eine Liste von Leuten starrt, die durch Blut, Heirat oder beides miteinander verbunden sind. In dieser Beziehung versagt die isolierte Kleinfamilie, in der er aufgewachsen ist. Um in Somalia gut zurechtzukommen, prägt man sich unzählige Kleinigkeiten ein, die damit zu tun haben, wer mit wem wie verwandt ist, und macht täglich Gebrauch davon. Die meisten Somalier können nicht anders, als von jedem, den sie erwähnen, die Clannamen aufzusagen, und das verwirrt ihn meistens.
»Xalan und Warsame wissen über dein Kommen Bescheid«, fährt Neunzigdezibel fort, »und einer oder beide holen dich in Bosaso vom Flughafen ab und bringen dich dann in dein Hotel.«
Neunzigdezibels Telefon klingelt, und er geht ran. Zu Ahls Überraschung senkt Neunzigdezibel seine Stimme auf vierzig Dezibel. Wahrscheinlich spricht der Mann mit jemandem hier aus der Gegend, vielleicht aus dem Laden nebenan. Nachdem er aufgelegt hat, fragt Neunzigdezibel: »Wirst du nach Taxliil suchen?«
Ahl zögert sichtlich. »Wir haben keine Ahnung, wo er ist«, sagt er dann, ohne die Miene zu verziehen.
»Also noch nichts Neues von deinem Sohn?«
»Wir warten und hoffen«, erwidert Ahl.
Als das Telefon erneut klingelt und die Stimme von Neunzigdezibel auf hundertfünfzig Dezibel anschwillt, findet Ahl, daß es an der Zeit ist, aufzubrechen. »Ganz herzlichen Dank«, sagt er lautlos beim Hinausgehen.
D hoorre, der Hausschuhe und über dem Schlafanzug einen Morgenmantel trägt und dringend einer Rasur
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