Gekapert
Minnesota würden dem Verschwinden ihrer Söhne soviel Bedeutung beimessen, wie diese Frauen einem verschwundenen Besen. Aber die somalischen Imame in Minnesota, die für das Verschwinden der jungen Männer verantwortlich sind, werden nicht zur Verantwortung gezogen. Unter den Somaliern herrscht die Einstellung, es handele sich dabei um eine »Clansache«. Was für ein Fluch, denkt Ahl. Somalier sind Experten darin, sich mit Vorwänden zu umgeben, verwirrende Situationen zu genießen. Weil sie darin geübt sind, einen an der Nase herumzuführen, gelingt es nur selten, sie in die Enge zu treiben.
Das Telefon klingelt, die Rezeption teilt ihm mit, seine SIM -Karte sei da. Er holt sie gleich ab, schickt dann jeweils eine kurze Mitteilung an Yusur und Malik, gibt ihnen seine Handynummer hier in Dschibuti, die lediglich vierundzwanzig Stunden Gültigkeit besitzt. Nachdem er erfahren hat, daß die Büros der Fluggesellschaften erst um 16.00 Uhr wieder öffnen, macht er ein Nickerchen.
In einem sehr realistisch wirkenden Traum trifft er in einem Zimmer in einer fremden Stadt eine ihm unbekannte Somalierin. Lange sprechen sie über nichts Besonderes. Dann machen sie einen Spaziergang einen Berg hinauf, hinein in ein extrem grünes Tal, die Blätter glänzen, herrlich der Schatten der Bäume. Um ihn zum Reden zu bringen, bietet ihm eine Masseurin eine Massage an.
Er wacht auf, fühlt sich ausgeruht.
Auf der Suche nach etwas zu essen, verläßt er das Hotel, wendet sich nach links. Wegen des grellen Lichts und der Mittagshitze trägt er eine Kappe. Die Sonne hier ist unglaublich stark, verbrennt alles und verkürzt die Schatten beinahe zu einem Nichts. Von seiner Zeit im Jemen weiß er, daß der Nachmittagsschatten erst auftaucht, wenn sich die Sonne verausgabt hat.
Dschibuti ist ein kleines, im Fadenkreuz verschiedener Strömungen gefangenes Land; es teilt sich eine Grenze mit Somalia, ist nicht weit vom Jemen entfernt, liegt an einem wichtigen Schiffahrtsweg, dem Bab al-Mandeb, und ist auf Tuchfühlung mit Äthiopien und Eritrea. Die Augen der westlichen Welt sind auf das Land gerichtet, und die NATO ist hier sehr präsent. Ein Wunder, daß es Dschibuti immer noch gibt und es sich weiterhin auf seine eigene Art behauptet.
Das Land mit seiner reichen Geschichte rührt an Ahls Sinn fürs Nostalgische. Schwerfällig schlendert er dahin, nimmt das vielstimmige Dschibuti in sich auf – jemenitisches Arabisch, Somalisch, Amharisch, Französisch und Tigrinisch. Irgendwo hat er gelesen, daß es Beweise dafür gibt, daß in dieser Gegend vor viertausend Jahren eine hochentwickelte Landwirtschaft existierte. Wichtige Hinweise darauf fanden sich im Grab eines Mädchens, das aus dem 2. Jahrtausend v.Chr. stammt oder sogar noch älter ist. Während seines Spaziergangs beeindruckt ihn die Weltläufigkeit der Stadt.
Kinderlärm erregt seine Aufmerksamkeit. Ein Hund jagt fünf oder sechs Jungen nach, von denen sich offensichtlich einer seinen Knochen geschnappt hat, vielleicht, um ihn zu essen; seine Kumpels rennen aus Spaß an der Freud mit, aber der Hund will seinen Knochen zurück. Ein jemenitisch sprechender Somalier, der vor einem Lokal steht, bemerkt, die Jungen seien weniger auf Streiche aus, sondern mehr darauf, etwas zu essen zu finden. Sie lassen einen Hund seinen Knochen nicht in Ruhe abnagen.
Ahl fragt den Mann, ob sein Lokal geöffnet sei. Er bejaht, und sie kommen ins Gespräch. Es stellt sich heraus, daß der Jemenit nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Mogadischu nach Dschibuti gezogen ist. Ahl bestellt Hammelfleisch und Injera, äthiopische Pfannkuchen, die aus Teff hergestellt werden, jenem hirseähnlichen Getreide, das ausschließlich im Hochland Äthiopiens wächst und zu Mehl verarbeitet wird. Ahl mag das Schwammige und den säuerlichen Geschmack.
Woher er stamme, fragt der Jemenit ihn, und Ahl antwortet, daß er auf dem Weg nach Bosaso sei.
»Dann sind Sie wohl geschäftlich hier«, meint der Jemenit.
»Kennen Sie Bosaso?«
Der Jemenit singt ein Loblied auf Bosaso, beschreibt es als boomende Stadt. Er behauptet, ein paar Leute zu kennen, die mit dubiosen Geschäften wie Piraterie und Menschenschmuggel einen Haufen Geld machen. Auf Ahls Drängen gibt er nur eine ungefähre Beschreibung, verrät ihre Namen nicht. Das ist in einer Gegend, in der es mehr Bindestrich-Identitäten gibt als in den Vereinigten Staaten, keine große Hilfe. Der Mann wird allerdings bald mißtrauisch, weiß er doch, daß es in
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