Gekapert
Bezeichnung für die Sandgrube in Bosaso, in der Ahls Flugzeug landet. Ganz in der Nähe, weniger als einen halben Kilometer entfernt, liegt das Meer, präsent wie immer. Jemand mit einem verqueren Sinn für Humor muß diese Piste angelegt haben, denn die Landung verlangt den Piloten akrobatische Kunststücke ab, und nur Passagiere mit starken Nerven bleiben ungerührt.
Nach der Landung erheben sich die Passagiere eilig, Ahl schaut zur Flugbegleiterin hinüber, die, das Gesicht in die Hände gepreßt, auf der anderen Seite des Gangs sitzt. Zuvor hatte sie bedrückt, teilnahmslos gewirkt. Er hatte versucht, mit ihr zu reden, herauszubekommen, ob er irgend etwas für sie tun könnte – nicht daß er gewußt hätte, wie er behilflich sein könnte. Als sie auf seine Fragen nicht geantwortet hatte, sondern weinte und das Foto eines kleinen Jungen anstarrte, hatte er beschlossen, sie in Ruhe zu lassen. Ihr unausgesetztes Schluchzen ließ ihn sein Taschentuch anbieten, damit sie sich die Tränen trocknen konnte. Jetzt, am Ende der Reise, interessiert ihn der Grund ihres Kummers immer noch. Ist der kleine Junge auf dem Foto verschwunden oder tot? Er trödelt noch ein bißchen länger herum, nimmt sich ausgiebig Zeit, seine Sachen zusammenzusammeln. Schließlich hebt sie den Kopf und schaut zu ihm hoch, der Anflug eines Lächelns umspielt ihre Lippen, und sie streckt ihm zaghaft die offene Hand mit dem Taschentuch entgegen, als wäre sie unsicher, ob er es in beschmutztem Zustand zurücknimmt. Er schlägt ihr vor, es zu behalten, hat so die Zeit, ihr Namensschild zu lesen: WIILA . Er nickt und wünscht ihr alles Gute.
Jetzt kann er einen ausgiebigeren Blick auf die Landebahn werfen, die keinen Zaun, keine Absperrung hat, die unbefugte Personen daran hindern könnte, direkt zum Flugzeug zu gehen und sich nach der Landung unter die Passagiere zu mischen. Am Fuß der Trittleiter sammeln sich ein paar zerlumpte Gestalten, umringen den Mann, der eine gelbe Weste, Flipflops und eine löchrige Hose trägt und das Flugzeug in seine Parkposition eingewiesen hat. Auch er quatscht die aussteigenden Passagiere an, bittet um Bakschisch.
Die Passagiere, die sich schon in Dschibuti im Flugzeug auf ihre Plätze durchgekämpft haben, balgen sich jetzt um ihr Gepäck, manche schleppen Koffer, die schwerer sind als sie selbst. Ahl tritt beiseite, schaut amüsiert zu. Er hat alle Zeit der Welt, die Glieder zu recken und sich den schmerzenden Rücken zu massieren. Der Pilot – Russe, Ukrainer, Serbe? – gesellt sich zu ihm und äußert sich beleidigend über Wiila, die er in schlechtem Englisch als »fettärschig, faul und weinerlich« tituliert. Ahl ist kurz davor, ihn zurechtzuweisen, aber Wiila bittet ihn eindringlich, »sich rauszuhalten«. Dadurch fühlt der Pilot sich ermutigt und läßt einen Schwall heftiger Flüche auf Wiila niedergehen. Ahl ist peinlich berührt und bedauert, sich in etwas eingemischt zu haben, was ihn nichts angeht.
Der Wind, der den Geruch des Meeres mit sich bringt, hilft Ahl, sich zu beruhigen. In nun wieder gelassener Stimmung versucht er seine Gastgeberin Xalan oder ihren Mann Warsame zu identifizieren, die er beide noch nie gesehen hat. Er schaut sich verhalten um und überlegt, ob er einen der beiden anhand der Beschreibungen seiner Frau erkennen kann. Dann sagt er sich, daß es keinen glücklicheren Menschen gibt, als den Reisenden, der sein Ziel erreicht hat und sich voller Zuversicht und unvoreingenommen, unbeschwert und sorglos der neuen Welt stellt, die sich vor ihm ausbreitet. Auch wenn er sich nun in Somalia befindet, besteht keine unmittelbare Gefahr für ihn. Jemand wartet auf ihn, holt ihn ab. Und sollte niemand auftauchen, dann ist es bestimmt auch nicht schwierig, allein in die Stadt und ins Hotel zu fahren.
Ein paar Träger in blauen Overalls bringen die Gepäckstücke und händigen sie den Passagieren aus. Ahl nimmt seine Tasche entgegen und gibt dem Träger als Dank ein paar Dollar. Damit hat er aber die Aufmerksamkeit eines der Herumlungernden auf sich gezogen, der ihm folgt und ständig an seinem Hemdsärmel oder der Laptoptasche zerrt. Der Mann deutet auf Mund und Bauch. Ahl weiß nicht, wie er ihn loswerden soll. Da hört er jemanden seinen Namen rufen und sieht einen dickbäuchigen Mann auf sich zu watscheln. Ahl und der Bettler warten schweigend.
»Willkommen in Puntland, Ahl. Ich bin Warsame.«
Warsames Hose hängt tief auf den Hüften, wie bei den Jugendlichen. Aber anders
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