Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
Kerl noch gestern Abend hier.
Sollte das dir übergeben´ Ihr Blick blieb an dem Brief in
seinen Händen hängen. `Und das sagst du mir erst jetzt, du
dumme Gans?` `Reg dich nicht so auf ja?, warste eh besoffen.` Nicola
fragte sich, wann der Zeitpunkt günstig erscheinen würde,
sie endgültig und für immer umzubringen. Er hörte noch
eine Tür zufallen und sonst hörte er nichts mehr, außer
seinen heftigen Atem, die stickige Luft um ihn herum heftigst ein-
und ausgeatmet. Er vergaß die Zigarette, die im Aschenbecher
oder sonst wo lag und er vergaß für den Moment, wo er sich
eigentlich befand, hier auf dieser Welt oder vielleicht sogar im
Totenreich. Er wäre nicht fähig gewesen, es in diesem
Moment auszumachen. Fjodor, sein Sohn war bei ihm erschienen und er
selbst war nicht da gewesen. Er konnte sich auch nicht erinnern, wo
er des abends gewesen sein sollte. Auf der Straße oder bereits
besoffen in der Kneipe oder sonst wo auf diesem Planeten. Aber das
spielte in diesem Augenblick keine Rolle. Denn er ist hier und da und
im Jetzt und sein Sohn hatte ihn gefunden. Er hatte ihn nach über
zwanzig Jahren ausfindig gemacht. Wie hatte er ihn finden können?
Er hatte seinen Sohn nicht gefunden. Hatte er sich je auf die Suche
nach ihm, seinem Kind gemacht? Nein, hatte er nicht. Deswegen
wahrscheinlich ist er ihm auch nie begegnet. Nicht einmal in den
zwanzig Jahren. Seine Gedanken überflogen sich. Er musste sich
erst wieder beruhigen. Sofort stand er auf und ging auf den kleinen
Spiegel an der kahlen Wand zu. Er schaute sich an, um sich zu
vergewissern, ob er überhaupt noch wie ein Mensch aussah. Er
hoffte, seinen Sohn nicht mit seinem Anblick zu erschrecken. Es
konnte sein, dass er heute plötzlich wieder vor seiner Tür
steht und nachfragt, ob er seinen Brief erhalten hat. Nicola rückte
sich ein paar Haare zurecht und spuckte sich in die Finger, um sich
damit den Schlafdreck aus den Augen zu reiben. Meine Güte,
Fjodor mein Junge. Ich habe es die ganze Zeit gespürt. Ich habe
es gewusst, dass du mich eines Tages wiedersehen möchtest. Ich
spürte deinen hilflosen und fragenden Blick über Jahre
hinweg auf meinem Rücken. Du hast mich nicht vergessen, so wie
ich dich nie vergessen habe. Jetzt endlich haben wir uns wieder
gefunden. Nicola setzte sich wieder hin und nahm den Brief erneut in
die Hand. Er betrachtete die Buchstaben, die darauf abgebildet waren
und versuchte durch das Schriftbild seinen Sohn auszumachen. Er
versuchte anhand der geschriebenen Buchstaben seinen Charakter
auszumachen. Er glaubte, sogleich durchzudrehen. Er öffnete den
Brief und fing an, darin zu lesen.
Und
draußen wurde es wieder dunkel und danach wieder hell. Und so
reichte der Tag der Nacht die Hand, zu einem gemeinsamen Tanz für
ein paar Sekunden, um sich sofort wieder zu lösen, sich zu
verabschieden und um getrennte Wege zu gehen und erneut nach vielen
Stunden sich wieder zu begegnen und sich zu umarmen.
Und das ihm
am Morgen. Wo er die neuen Tage so gerne hatte, zumindest in den
ersten, frühen Stunden. Danach schon nicht mehr, am Nachmittag
verlor sie sich gänzlich und am späten Abend blieb nur noch
die Freude auf den Schlaf. Aber er hatte sich die Neugier auf die
noch nicht gelebten Tage bewahrt. Deswegen schien es ihm seltsam,
dass sich diese Neugier heute gar nicht so recht einstellen wollte.
Eigentlich kannte er dieses dumpfe Gefühl des abends bis hin zur
Nacht. Spät abends, wenn es hieß, ins Bett zu gehen, aber
der Geist einem sagt, dass man den Tag über nichts geleistet hat
und es ein sinnloser Tag war, ihn aber trotzdem zu verabschieden
hätte. Der Mensch daraufhin noch zögert, aber die Müdigkeit
es als Akzeptanz hinzunehmen hat und der Geist einem was ganz anderes
erzählt. Die Abende sind sinnlos, sie kündigen einem die
eigene Schwäche an. Sie signalisieren, dass es aus ist mit der
Kraft und mit dem Elan. Dass der Körper sich endlich hinzulegen
hat und Energie tanken muss, auf ein Neues, auf ein Weiteres. Es ist
eine Anordnung, ein Vorgabe, ein Befehl. Natürlich kann man sich
dem auch widersetzen. Aber dann sieht es am zweiten oder am dritten
Abend noch beschissener aus. Die Kraft, der Geist, alles ist auf den
Nullpunkt gesunken. Und dann gibt es kein zurück. Ab da hat der
Mensch nur noch zu gehorchen und sich zu fügen. Ich weiß
nicht, von wem eigentlich diese Verordnung angeordnet wird. Die Natur
lässt sich nicht ohne weiteres erklären und ohne weiteres
ergründen. Das erfreuliche daran ist, es
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