Geködert
Manchmal fragte ich mich, ob nicht auch ihr Plan, an der Universität zu studieren, eine Prüfung war und mich herausfordern sollte, ihr einen Heiratsantrag zu machen.
An diesem Freitag abend ging ich also zu dem Rendezvous mit Cindy allein. Glücklicherweise, denn Cindy war nicht bei bester Laune. Sie war ziemlich zerstreut, und es hätte ihre Stimmung bestimmt nicht gehoben, wenn Gloria als Anhängsel
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mit dabeigewesen wäre. In Cindys Augen war Gloria nur eine sehr subalterne Bedienstete des Department, die eigentlich kein Recht hatte, sich in unsere alte Freundschaft einzumischen.
»Dein blondes Zwischenspiel«, nannte sie Gloria. Die Bezeichnung verriet, was sie von unserem Verhältnis hielt.
Ich ging nicht darauf ein. Sie lächelte auf eine Weise, die zugleich ihrem Urteil Nachdruck verlieh und Befriedigung ausdrückte darüber, dass ich es widerspruchslos gelten ließ.
Cindy war eine anziehende Frau, sexy auf die Art, wie Gesundheit und Energie gemeinsam oft wirken. Aber ich hatte Jim nie beneidet. Cindy war mir zu schlau und intrigant, und ich konnte nicht gut mit ihr umgehen.
Ich fand sie in einem Zimmer im zweiten Stock des Hotels.
Sie saß rauchend auf dem Bett. Neben ihr stand ein Tablett mit einer Teekanne, Milch und einer Tasse – nur einer – und ein großer Martini-Aschenbecher voller Zigarettenstummel, deren Mundstücke mit Lippenstift beschmiert waren. Cindys Anstrengungen, sich das Rauchen abzugewöhnen, waren offenbar vergeblich gewesen. Sie fragte, was ich trinken wollte. Ich hätte ablehnen sollen, bat aber um einen Scotch und gab ihr die Schachtel mit den Grabinschriften und den Ansätzen zu deren Entzifferung oder vielmehr, ich versuchte, sie ihr zu geben. Sie wies sie mit einer müden Handbewegung zurück. »Ich will das Zeug nicht.«
»Gloria hat mir gesagt …«
»Ich habe es mir anders überlegt. Du kannst es behalten.«
»In dieser Schachtel ist nichts, was über Jim oder seine Arbeit irgendwas aussagt«, meinte ich, »darauf wette ich meinen Kopf.«
Sie zuckte mit den Achseln und strich sich übers Haar.
Wir verschwendeten viel Zeit auf die Überredung des Hotelpersonals, uns die Getränke zu bringen, und während wir warteten, unterhielten wir uns über nichts Besonderes. Einen angenehmen Abend stellte ich mir anders vor. Den Ort hatte
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Cindy bestimmt: das Grand & International, ein heruntergekommenes, altes Hotel am Nordrand der Kensington Gardens, hinter den chinesischen Restaurants von Queensway versteckt.
Sie hatte das Zimmer im voraus bezahlt mit der Erklärung, dass sie ohne Gepäck einzuziehen beabsichtige, da sie dort nur etwa eine Stunde lang mit einem Herrn zu reden haben würde.
Ich betrachtete sie in ihrem schicken Kostüm aus schwarz-grünem Schottenkaro. Ein dicker Mantel aus synthetischem Pelz war über das Bett geworfen. Sie war nicht groß und anmutig wie Gloria, aber ihre Figur konnte sich sehen lassen, und wie sie da auf dem Bett lagerte, ließ sie ihre Figur sehen.
Ich fragte mich, was die Leute am Empfang unten von ihr hielten. Oder sparte sich das Hotelpersonal in dieser Gegend Vermutungen über die Gäste?
Das Zimmer war sicherlich eines der besten des Hotels, aber trotzdem ein schmutziges Loch. Über einem von mehreren Sprüngen durchzogenen Waschbecken aus blauem Porzellan hing ein Spiegel voller Fliegendreck. Das Bett war groß, mit gepolstertem Kopfbrett und grauen Laken. Cindy sagte, es sei hier angenehm anonym, aber ich glaube, sie verwechselte Anonymität mit Unbequemlichkeit wie viele Leute. Falls die Lage des Grand & International – der Doppelname des Hotels erinnerte an einen Anspruch, den dessen Gründer vor annähernd einem Jahrhundert vielleicht allen Ernstes erhoben hatten – für Cindy eine Garantie darstellte, keine Bekannten zu treffen, von mir konnte ich das nicht behaupten.
Ich war schon oft hier gewesen. 1974 hatte ich eine wunderschöne alte Sauer-Automatik in die Bar mitgebracht.
Ich hatte sie einem Mann namens Max verkauft, der mir dann während meines letzten illegalen Grenzübertritts das Leben rettete und seins verlor. Die Pistole war ein Schatz, ein bisschen verkratzt, aber nicht oft gebraucht. Die Doppelmechanik dieses Modells war damals die beste, die zu
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haben war. Ich nehme aber an, dass Max eine Sauer haben wollte, weil im letzten Krieg die höheren deutschen Offiziere diese Waffe bevorzugten. Max war zwar nicht für die Nazis gewesen, im Gegenteil, aber dass sie was von Waffen
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