Geliebte Betrügerin
Verkleidung durchgehen zu lassen?
Die Antwort konnte nur lauten: gar keine. Dass sie sich überhaupt Sorgen machte, zeigte nur, welchen Einfluss Kerrich auf sie hatte. Sie witterte schon überall Verschwörungen. Kerrich war eine Gefahr für Ehre und Verstand.
Und die Sicherheit des Kindes. Pamela ritt um die Biegung und schaute den Pfad hinunter. Gütiger Himmel, das war Beth, die da ausgestreckt in Kerrichs Armen lag!
Sie fühlte einen höchst unwillkommenen Anflug von Panik. Was, wenn das Kind verletzt war? Dann würde Kerrich Beth vielleicht doch zurückschicken und
eine neues
Kind verlangen, eines das mehr aushielt.
Diesmal ließ sie dem Pferd seine Halsstarrigkeit nicht durchgehen, sondern spornte es zum Trab, bis sie das Kind in die Finger bekam – und den Mann. »Was ist passiert?«, fragte sie mit lauter Stimme.
»Wir haben dich nicht schnell genug auf die Füße bekommen, um uns einen Tadel zu ersparen«, sagte Kerrich zu Beth. Sein Zylinder lag neben ihm im Gras. Das Gebüsch hinter ihm umrahmte ihn grün und sprenkelte ihn mit Sonnenflecken. Mit der lächelnden Beth in den Armen sah er wie eine Gestalt auf einem Watteau-Gemälde aus, nicht wie der rücksichtslose Lebemann, der er war.
Beth rieb sich den Kopf. »Mir geht es gut, Miss Lockhart.«
Der Stallbursche eilte auf Pamela zu, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein, doch bis er sie erreichte, hatte sie sich schon aus dem Sattel geschwungen. »Du hast dir den Kopf angeschlagen!«
»Das tut aber nicht am meisten weh, sondern dass Sie mich anschreien, weil ich geschrien habe.« Beth stand auf, Kerrichs Hand am Ellenbogen und schwankte einen Moment lang.
Pamela stürzte ängstlich wie eine Mutter auf sie zu, aber Kerrich schnitt ihr mit der Schulter den Weg ab.
»Irgendwas gebrochen?« Kerrich führte Beth ein paar Schritte den Weg entlang. »Irgendwas gezerrt?«
»Nein. Ich kann weiterreiten!«
Pamela musste überraschenderweise gegen Tränen kämpfen. Vermutlich nur die Angst, dass eine verletzte Beth ihre Pläne fehlschlagen ließ. Es konnte doch nicht sein, dass sie schon so etwas wie Liebe für das Kind empfand. Und daran, dass Kerrich sie rüde weggeschoben hatte, konnte es auch nicht liegen. In dem strengen Tonfall, der ihr so leicht über die Lippen ging, sagte sie: »Genug geritten für heute Nachmittag.«
Beth jammerte: »Aber, Miss Lockhart …«
»Du solltest ein Stück gehen und deine Blessuren kurieren.« Kerrich ließ Beth los, stützte die Hände in die Hüften, schaute dem Kind hinterher und sagte: »Sie hängen also nicht der Theorie an, dass sie so schnell wie möglich wieder aufs Pferd sollte.«
Ohne jeden Grund verschlug es Pamela die Sprache.
Er stand einfach so da und drehte ihr das Profil zu. jeder Knochen seines Gesichts spannte die gebräunte Haut und kündete großspurig von seiner noblen Abstammung. Sein Kinn war eigensinnig, die Nase auffallend, die Stirn hoch. Seine Lippen … ah, seine Lippen waren weich und voll, sensibel und einladend. Der feine Reitanzug aus schwarzem Wollstoff passte ihm wunderbar, betonte die breiten Schultern, die mächtige Brust, die schmalen Hüften und die beunruhigend langen Beine. Er war der prachtvollste Mann, den Pamela je gesehen hatte – und es fiel ihr auf! Sie, die Männer grundsätzlich verabscheute und gut aussehende Schürzenjäger insbesondere, bemerkte die körperlichen Reize eines Mannes wie der Ehebrecher die Reize eines hübschen Mädchens.
Sie wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Am besten versteckte sie ihre Gedanken unter einer Fassade aus Worten. »Dass sie reiten kann, wird ihr nicht gerade eine Hilfe sein, wenn Sie sich dazu entschließen, sie fortzuschicken, Mylord.«
Warum jetzt? Warum er? Vielleicht weil sie sich nicht mehr genötigt fühlte, die ältliche, geschlechtslose Miss Lockhart zu sein, sobald er sie nicht ansah. Sie musste sich vergegenwärtigen, dass Kerrich ein Schürzenjäger war. Ein Lügner. Ein Manipulierer.
Heute Morgen war sie so damit beschäftigt gewesen, ihn zu verabscheuen und ihn als Gouvernante zu überzeugen, dass sie nicht auf seine glamouröse Ausstrahlung geachtet hatte. jetzt sah sie sie. Sah ihn. Und war verdrehterweise verlegen, dass er sie in diesem Reitkleid sah, das sie rasch hervorgezerrt hatte. Eines von Lady Temperlys schwarzen Trauerkleidern aus Wolle. Dazu einen Reithut, den wohl eine von Kerrichs Damen vergessen und nie zurückverlangt hatte. Als ob es eine Rolle spielte, was Pamela Lockhart
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