Geliebte Gefangene
einen Vorfall, bei dem Ihr Henry, als er etwa acht Jahre alt war, im Wald verloren habt. Er hat mir erzählt, dass Ihr an jenem Tag lieber mit der Milchmagd getändelt habt, als das Kindermädchen für Euren kleinen Bruder zu spielen …“
Simon erstarrte. Sie hatte recht, auch wenn er den Vorfall schon lange vergessen hatte. Er war achtzehn gewesen und hatte es vorgezogen, sich an jenem Sommernachmittag mit einer willigen Magd zu vergnügen. Er hatte Henry für kurze Zeit allein im Wald zurückgelassen und war entsetzt gewesen, als sein Bruder bei seiner Rückkehr verschwunden war. Nur zu deutlich erinnerte er sich an seine Verzweiflung bei der hastigen Suche, an die Angst, die sein Herz ergriffen hatte, bevor er den kleinen Bruder in seinem Versteck in einer Försterhütte gefunden hatte. Doch jene Angst war nur ein schwaches Abbild des Schmerzes gewesen, den er gefühlt hatte, als man ihm mitteilte, dass Henry tot sei. Er hatte immer versucht, auf seinen Bruder aufzupassen.
Simon sah, wie sich auf Guy Standishs Gesicht ein ungläubiges Grinsen breitmachte, bevor der Captain seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. In einer Stunde würde jeder im Lager die Geschichte kennen, ohne dass er, Simon, etwas dagegen tun konnte. Widerwillig lachte er auf, und die Atmosphäre im Raum entspannte sich ein wenig. „Verdammt soll er sein. Henry hat mir hoch und heilig geschworen, dass er nie jemandem davon erzählen würde.“
„Sir Henry schwört, dass er sein Wort bis jetzt gehalten hat“, erwiderte Anne. „Aber Zeiten der Verzweiflung erfordern verzweifelte Maßnahmen.“
„In der Tat.“ Simon sah sie an. „Das ist also der Grund, warum Ihr hier seid.“ Sein Ton wurde hart. „Ihr wollt mit dem Leben meines Bruders um die Sicherheit von Grafton handeln.“
Ungeduldig winkte Anne ab. „Ich würde alles tun, um meine Leute zu schützen, Lord Greville.“
Simon nickte wortlos. Er hatte selbst gesehen, wie sehr die Menschen von Grafton ihre Herrin liebten – und er hatte die Ergebenheit gespürt, die sie ihr entgegenbrachten. Er wandte sich wieder zu seinen Männern. „Layton, Carter, zurück auf eure Posten. Guy …“ Standish verbeugte sich, um seine Lippen spielte noch immer ein Lächeln. „Seid so gut und besorgt uns eine Flasche Wein. Vom guten, bitte“, Simon deutete zum Tisch hinüber, „und nicht diese schlechte Entschuldigung für ein Getränk.“ Dann drehte er sich wieder zu Anne um. „Werdet Ihr ein Glas Wein mit mir trinken, Madam?“
Anne schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht länger aufhalten, Mylord. Ich bin nur gekommen, um Euch mitzuteilen, dass Sir Henry noch lebt, und um Euch das Versprechen abzunehmen, dass Ihr das Gut nicht angreifen werdet.“
Schnell trat Simon zwischen sie und die Tür. Seine Männer waren inzwischen hinaus in den Schnee gegangen und hatten sie in dem Stall allein zurückgelassen, der nur von dem flackernden Feuer erhellt wurde. „Ihr könnt jetzt nicht gehen“, sagte er leise, während sein Blick über ihr Gesicht wanderte. „Ihr habt mir noch nicht einmal ein Viertel der Geschichte erzählt.“ Er schloss die Tür und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Es war ein einfacher harter Holzstuhl, da in den Ställen und Scheunen des Dorfes Grafton nichts mehr zu finden gewesen war, was übermäßigen Komfort bot.
Simon war erschüttert gewesen, als er mit seinen Truppen zur Belagerung des Guts angerückt war und das Dorf in Trümmern vorgefunden hatte. Er hatte schnell herausgefunden, dass es Gerard Malvoisiers royalistische Truppen gewesen waren, die plündernd, raubend und brandschatzend durch die Gegend gezogen waren. Sie hatten alles mitgenommen, an dem sie Interesse hatten, und den Rest aus reinem Übermut zerstört. Malvoisiers Verhalten war umso unentschuldbarer, da Grafton stets treu zum König gestanden hatte. Jetzt war die Bevölkerung vertrieben, die Häuser nur noch Ruinen und die wenigen Menschen, die noch da waren, verbittert, auch wenn sie den royalistischen Treueschwur des alten Earls weiter achteten.
Simons Männer hatten das Gut umzingelt und lebten jetzt schon seit drei Monaten mit den verbleibenden Dorfbewohnern in einem vorsichtigen Waffenstillstand. Sie hatten sich durch harte Arbeit den widerwilligen Respekt der Leute verdient, weil sie den Dorfbewohnern höflich begegneten, ihr Essen mit ihnen teilten und ihnen bei allen Arbeiten zur Hand gingen, sei es Bäume zu fällen oder ihre Hütten wieder aufzubauen. Sie kamen zwar mit
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