Geliebte Gefangene
nachgeben und ganz sicher nicht ihren Treueschwur brechen. Er fühlte den Aufruhr in ihr. Zu gerne hätte sie ihn zur Hölle gewünscht, aber es stand zu viel auf dem Spiel. Aber er spürte auch ihre Verzweiflung. Das Schicksal Graftons bedeutete ihr beinahe alles. Und das könnte heißen, dass sie ihm tatsächlich die Wahrheit über Henry gesagt hatte. Entweder das, oder sie war eine verdammt gute Schauspielerin. „Ihr bleibt also bei Eurer Behauptung, dass Henry gesund und munter ist und dass Malvoisier gelogen hat, als er mir von seinem Tod berichtete?“, setzte er nach.
„Es stimmt.“ Sie schlug die Augen nieder. „Das heißt, Sir Henry lebt, aber er wurde verwundet.“
Wut und Hass flammten in Simon auf. „Malvoisier?“ Seine Faust traf den Tisch in einem mächtigen Schlag. „Ich hätte es wissen sollen. Verdammt soll er sein, für alles, was er getan hat!“
„Sir Henry wird sich wieder erholen“, sagte Anne. Sie streckte kurz die Hand nach ihm aus, zog sie dann aber schnell wieder zurück. „Euer Bruder ist jung und kräftig, Mylord, und mit der Zeit …“ Sie hielt inne, und die Stille hing schwer zwischen ihnen. Simon wusste, was dieses Schweigen bedeutete. Henry würde sich erholen, wenn er morgen den Angriff auf das Gut überlebte. Er würde sich erholen, wenn Gerard Malvoisier ihn nicht als Geisel benutzte oder ihn, um ein Exempel zu statuieren, auf den Zinnen aufhängte.
In einem Anflug von Ruhelosigkeit kam er auf die Beine. Er war hin und her gerissen. Wenn Henry wirklich tot gewesen wäre, hätte er selbst auch bei einem Frontalangriff auf Grafton nichts mehr zu verlieren gehabt. Aber jetzt anzugreifen, da er wusste, dass sein Bruder dort gefangen gehalten wurde … Es war gefährlich – vielleicht sogar selbstmörderisch –, doch er würde sich nicht von einem Mann wie Malvoisier erpressen lassen.
Unfähig, ruhig zu bleiben, durchquerte er den Raum mit großen Schritten, um seiner Wut Herr zu werden. „Er hat mir eine Leiche geschickt“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Wie ist das möglich, wenn Henry noch lebt?“
Anne schien im Angesicht seines Zorns nur noch ruhiger zu werden. Sie drehte nicht einmal den Kopf, als sie ihm antwortete, aber ihre Finger, die sie in ihrem Schoß gegeneinanderpresste, zeigten, dass sie lange nicht so gefasst war, wie es den Anschein hatte. „Der Tote war einer von Malvoisiers eigenen Männern. Er starb am Fieber.“
Simon konnte nicht glauben, was er da hörte und wirbelte zu ihr herum. „Er hat einem seiner eigenen Soldaten die Beerdigung verwehrt? Und sein Körper wurde verstümmelt, damit ich ihn auch wirklich für Henry halten würde?“ Seine Finger schlossen sich so hart um sein Weinglas, dass das Kristall beinahe zerbrach. Er hatte nie infrage gestellt, dass der tote Mann Henry war. Der Körper war so entstellt gewesen, dass er unmöglich zu erkennen war, und versunken in Schmerz und Reue hätte er niemals geglaubt, dass Malvoisier ihn bewusst in die Irre geführt hatte. Er hatte den Toten mit allen Ehren begraben, ihrem Vater geschrieben, um ihm mitzuteilen, dass sein jüngerer Sohn gefallen sei, und hatte seine eigenen Pläne für eine eiskalte und brutale Rache geschmiedet. Was machte es schon, dass es ein wahnsinniges Unternehmen war, die Garnison in Grafton anzugreifen. Es war ihm egal. Alles, was er wollte, war, die Familienehre wiederherzustellen und Gerard Malvoisier vollständig und endgültig zu vernichten. „Warum hat er das getan?“, fragte er leise. „Warum wollte er mich glauben machen, dass mein Bruder tot ist?“
„Ihr seid der Stratege, Mylord“, erwiderte Anne. „Warum glaubt Ihr, dass er es getan hat?“
Simon überdachte die Sache. „Er wollte, dass ich Henry für tot halte, um mich zu provozieren“, sagte er langsam. „Er wollte die Belagerung beenden und mich aufs freie Feld zwingen, weil er da eine bessere Chance hat, mich zu besiegen.“
„Ganz genau.“
„Jetzt hat er einen doppelten Vorteil“, dachte Simon laut weiter. „Er hat mich zu einer unüberlegten Handlung getrieben, und er hat immer noch meinen Bruder in seiner Gewalt.“ Er nickte langsam. „Dieser Mann ist sehr gerissen. Beinahe könnte ich seine Taktik bewundern.“ Er trat zu Annes Stuhl hinüber und lehnte sich so dicht neben ihr an den Tisch, dass sie seinen Atem in ihrem Haar spüren konnte. „Das heißt … wenn es denn stimmt, Lady Anne. Ich bin fast versucht, Euch zu glauben.“
Er wusste, dass es
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