Geliebte Gefangene
Euer Ansehen. Das ist alles, was Euch kümmert! “
Sie starrten sich für einen langen Moment an, die Blicke ihrer dunklen Augen unverwandt aufeinander gerichtet.
„Selbst wenn ich die Attacke abblasen würde, könnte ich Henry nicht befreien“, sagte Simon schließlich und versuchte, ihre Beschuldigungen und den Ärger, den sie in ihm hervorgerufen hatten, zu ignorieren. „Ihr habt recht – er ist Malvoisiers Geisel. Die einzige Möglichkeit, ihn zu retten, ist, die Burg einzunehmen.“
Anne griff nach ihrem Mantel. „Dann verschwende ich hier meine Zeit. Henry sagte, dass ihr Vernunft zeigen würdet. Offensichtlich hat er Euch überschätzt.“
Mit zwei schnellen Schritten war Simon an der Tür und versperrte Anne den Weg. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen das Holz und verschränkte die Arme vor der Brust. Anne war vor ihm stehen geblieben und wartete ungeduldig, dass er sie vorbeilassen würde, doch er bewegte sich keinen Zentimeter zur Seite. „Ihr habt mir allerdings die Möglichkeit gegeben, General Malvoisiers Plan zu durchkreuzen“, sagte er ruhig.
Verwirrt schaute Anne ihn an. „Wie meint Ihr das?“
Simon schloss den ganzen Raum in seine Geste ein. „Ich glaube Euch, dass Malvoisier Henry gefangen hält, aber nun seid Ihr in meiner Gewalt. Eine Geisel für eine Geisel, ein Leben für ein Leben.“ Sein Blick hielt den ihren. „Ich werde Euch benutzen, um Henry zu befreien. Lady Anne, betrachtet Euch als meine Gefangene.“
2. KAPITEL
Unglaube und bittere Ernüchterung trafen Anne mit doppeltem Schlag. Sie hatte noch die Worte Henry Grevilles im Ohr: ‚Mein Bruder ist ein Mann von Ehre. Er wird Euch für Euer Eingreifen danken. Er wird Euch mit allem Euch zustehenden Respekt behandeln …‘
Und sie hatte ihm geglaubt, in Erinnerung an den Simon Greville, den sie vor Jahren gekannt hatte. Daher hatte sie Henrys Worte keinen Augenblick infrage gestellt. Wie unglaublich dumm sie gewesen war. In ihrem Verlangen, das Richtige zu tun und Simon Greville die Wahrheit über seinen Bruder zu sagen und sowohl Henry als auch ihre eigenen Leute zu retten, war sie direkt in die Höhle des Löwen gelaufen und hatte sich in die Hände eines Mannes begeben, der mindestens so gefährlich und skrupellos wie Gerard Malvoisier war. Sie hatte alles für die Gerechtigkeit riskiert, und Simon Greville, ihr früherer Ver lobter, dankte es ihr, indem er sie benutzte.
Sie wirbelte so schnell herum, dass der Weinpokal auf dem Tisch neben ihr ins Wanken geriet und beinahe umfiel. „Das werdet Ihr nicht tun!“ Ihre Stimme brach und verriet ihre Verzweiflung. „Ich habe Euch vertraut! Ich bin in gutem Glauben zu Euch gekommen, um einen Waffenstillstand zu verhandeln.“
Simons Gesichtsausdruck wurde hart. „Wie ich schon sagte – es ist am besten, niemandem zu vertrauen.“
Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Anne sah Lord Greville an. Es war nur allzu offensichtlich, dass die schönen Erinnerungen an ihre frühere Bekanntschaft sie in die Irre geleitet hatten. Immer noch stand ihr der lange heiße Sommer vor vier Jahren vor Augen, als Simon Greville in Grafton um sie geworben und sie mit solcher Zärtlichkeit und Leidenschaft geküsst hatte, dass sie sich sofort in ihn verliebt hatte. In all den Jahren, die darauf folgten, hatte sie keinen anderen Mann getroffen, der mit ihren Erinnerungen an ihn konkurrieren konnte. Ob bewusst oder unbewusst hatte sie alle Männer immer an ihm gemessen – und hatte stets Fehl an ihnen gefunden. Aber nun schien es, dass ihr eigenes Urteilsvermögen sie im Stich gelassen hatte. Simon Greville hatte keine Ehre und keinen Anstand und würde sie für seine eigenen Zwecke benutzen.
Äußerlich hatte er sich kaum verändert. Er war in den vergangenen Jahren lediglich ein wenig breiter geworden, sodass er nun nicht mehr nur groß, sondern auch massiv wirkte. Er war sehr dunkel, mit den aufmerksamen Augen und den gemeißelten, aristokratischen Zügen eines Kirchenheiligen. Anders als sein Bruder lächelte er kaum. Aber Henry Greville war kaum mehr als ein charmanter Junge. Simon hingegen war ein Mann, der beeindruckte. Er war mächtig, kalt, berechnend – und kannte keine Gnade. Sie hätte es wissen müssen und weglaufen sollen, als sie noch die Gelegenheit dazu hatte. Stattdessen hatten ihre Erinnerungen und ihr Vertrauen in Simons Worte ihr ein falsches Gefühl der Sicherheit gegeben. Sie hatte ihr Leben in seine Hände gelegt. Nun fühlte sie sich verraten. All
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