Geliebte Gefangene
erwiderte Sophie rasch. Sie ließ ihn kaum aussprechen und legte ihm traurig den Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Bitte. Verdirb diesen Augenblick nicht, indem du Dinge sagst, die du nicht so meinst.“
„Aber ich meine es so, Sophie“, protestierte er und nahm vorsichtig ihren Finger fort. „Nie in meinem ganzen Leben habe ich etwas ehrlicher gemeint.“
Mit großen Augen sah sie zu ihm hoch. Selbst jetzt, wo sie lächelte, quoll noch eine dicke Träne aus ihrem Augenwinkel und lief ihr über die Wange. „Ach Harry“, flüsterte sie. „Wieder so eine deiner Provokationen, nicht wahr? Du forderst mich heraus, dir zu sagen, dass ich dich auch liebe, stimmt’s?“
„ Nein! “ Das Wort kam hart und abweisend. Abrupt rollte er sich auf den Rücken und starrte zum Betthimmel hinauf. Sie würde ihn nicht verstehen – wie konnte sie auch? –, aber er wollte nichts erklären. „Ich fordere niemanden heraus, irgendetwas zu tun, Sophie. Nicht mehr.“
Sie schniefte wieder und wickelte sich in die Decke ein, während sie sich neben ihm aufrichtete. Nun, da es ein Proble m zu lösen galt, waren die Tränen vergessen. „Was ist das jetzt wieder für ein Unsinn, Harry?“, fragte sie sanft. „Du lebst für Heraus forderungen. Das hast du immer getan. Was anderes war denn diese ganze Nacht als eine einzige Herausforderung an mich und umgekehrt?“
„Nein“, entgegnete Harry. Er war entsetzt, dass Sophie seine Worte so deutete, und brachte es nicht übers Herz, sie anzuschauen. „Das würde ich dir nie antun.“
„Natürlich würdest du“, sagte sie, vernünftig wie immer. „Wieso nicht? Wahrscheinlich hast du George auch herausgefordert, kaum dass du sprechen konntest, und hast ihm vorgeschlagen, doch aus seiner Wiege zu klettern und …“
„Hör auf, Sophie“, sagte er scharf. Mochte sie auch nicht an das Schicksal glauben, er tat es gewiss. Wie anders war es zu erklären, dass, nachdem er mit der Frau, die er am meisten liebte, den wunderbarsten Liebesakt erlebt hatte, plötzlich Georges Geist zwischen ihnen stand? „Keine Herausforderungen mehr.“
„Oh, verflixt und zugenäht“, schimpfte sie. „Seit wann das denn?“
Dann war dies wohl die ihm bestimmte Strafe. Bevor sie ihm noch sagen konnte, dass auch sie ihn liebte – falls sie, Gott möge ihm helfen, es wirklich tat –, musste er ihr die Wahrheit sagen und damit riskieren, sie für immer zu verlieren.
„ Seit George starb , Sophie“, erwiderte er. Er wusste nicht, wie er ihr diese schreckliche Nachricht auf schonendere Weise mitteilen sollte. „In diesem Juni ist es sieben Jahre her.“
Entsetzt rang sie nach Atem. „Oh, Harry, Harry, das wusste ich nicht!“, rief sie weinend. Ihr Haar fiel nach vorne, als sie sich über ihn beugte. „Nicht der kleine George, nicht er! Es tut mir so leid, ich wusste es nicht!“
„Es war mein Fehler, Sophie“, erwiderte Harry. Jetzt, wo er schon einmal mit der Wahrheit begonnen hatte, fuhr er schonungslos damit fort. „Wenn ich George dieses eine Mal nicht herausgefordert hätte, würde er jetzt noch leben.“
„Aber wie ist das möglich, Harry?“, fragte sie und richtete sich auf. „Wie?“
„Auf die übliche Art“, antwortete er. Auch nach sieben Jahren war ihm noch jedes Detail dieser Nacht schmerzhaft bewusst.
„Wir hatten getrunken, und George ließ sich darüber aus, was für Feiglinge diese Franzosen doch seien und dass jeder gute Engländer, der etwas tauge, noch vor dem Frühstück Dutzende von ihnen verprügeln könnte. Ich habe ihm widersprochen und gesagt, dass er zum Beispiel es nicht könnte.“
„Und das war alles?“, fragte sie. Das Entsetzen in ihrer Stimme war so deutlich zu hören, dass Harry sich fragte, wieso sie nicht aus dem Bett sprang und ihn sofort verließ, so wie er es verdiente.
„Es genügte“, sagte er bitter. „Was willst du noch mehr? Noch bevor ich wieder einen klaren Kopf bekam, war mein verdammter kleiner Bruder bereits ins Regiment eingetreten, über den Kanal und tot, ehe der Monat vergangen war.“
„Armer, lieber George“, sagte sie kummervoll. „Wo fiel er?“
„Er ist nicht gefallen.“ Wieder stieg die alte Bitterkeit und der Schmerz über den Verlust in Harry auf. „Das war ja die verdammte Ironie an der ganzen Sache. Kein Heldentod für George, kein Ruhm, keine zu Dutzenden erschlagenen Franzosen. Stattdessen starb er in einem Lager an Cholera und wurde in eine Kalkgrube geworfen, noch bevor er die
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