Geliebte Gefangene
Sie durfte vor ihm keine Schwäche zeigen.
Aber es war zu spät. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich, und er zog sie an sich, nicht hastig, sondern langsam, bis ihre Lippen sich beinahe berührten. Und dann hielt er inne. Sie konnte die dunklen Stoppeln seines Barts sehen, wo er sich nicht rasiert hatte, und die Schatten, die seine Wimpern auf seine Wangen warfen.
Annes Kehle wurde trocken. „Lasst mich los“, flüsterte sie. „Ich vertraue Euch nicht.“
„Ich weiß.“ Simons Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. „Ihr seid klug, niemandem zu vertrauen.“
Langsam ließ er sie los, und Anne trat einen Schritt zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und ihre Beine zitterten. Sie griff nach einer Stuhllehne, um sich abzustützen, und hoffte, dass Simon glaubte, ihre Schwäche würde von Angst herrühren und nicht eine Reaktion auf seine Berührung sein. Sie blickte zu ihm hoch und sah den spöttischen Ausdruck in seinen Augen.
„Worüber würdet Ihr gerne reden?“, fragte er. Sein Blick wanderte über ihren Körper, wie er es schon zuvor getan hatte. „Ihr wisst, dass Ihr nichts habt, was Ihr mir anbieten könnt.“ Er machte eine kleine Pause. „Zumindest gehe ich davon aus, dass Ihr nicht vorhabt, mich mit dem Versprechen Eures Körpers zu bestechen …“
Anne warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Ihre Finger schlossen sich fester um den Stuhl. Dort, unter ihrer Hand, fühlte sie den Schwertgurt. In ihrem Kopf formte sich ein Plan. Sie betete, dass sie es schaffen würde. Sie musste ihn am Reden halten, ihn ablenken … „Ihr seid verachtenswert.“
„Und Ihr seid hilflos.“ Er sah amüsiert aus.
Wütend funkelte Anne ihn an. „Ihr täuscht Euch“, erwiderte sie.„Ich habe viele Vorteile auf meiner Seite. Ich kenne die Lage und die Umgebung von Grafton. Ich kenne die Schwachstellen und Malvoisiers Pläne. Ich könnte Euch sogar sicher in die Burg bringen, wenn ich es denn wollte.“
Simon sah sie durchdringend an. „Aber Ihr würdet es nicht tun. Ihr würdet nie Eure Sache verraten.“
„Nein“, stimmte Anne ihm bitter zu. „Alles, was ich heute Nacht getan habe, hatte nur ein Ziel: Grafton zu retten. Mir bedeutet Ehre nämlich noch etwas.“
Mit spöttisch verzogenen Lippen schaute Simon sie an. „ Touché, Mylady.“ Lässig hob er die Hand. „Aber da Ihr nicht bereit seid, Euch oder Eure Prinzipien zu verkaufen, habt Ihr nichts, mit dem Ihr handeln könnt.“
„Ich habe nicht vor zu handeln“, betonte Anne. „Ich habe vor, Euch dazu zu bringen, mich gehen zu lassen.“
Lächelnd verschränkte Simon die Arme vor der Brust. „Und wie wollt Ihr das anstellen?“, fragte er herablassend und stachelte damit ihren Zorn noch mehr an.
Als Antwort griff Anne nach dem Schwert. Mit dem befriedigenden Zischen von Metall glitt es aus der Scheide. Sie wirbelte herum. Simon war schon fast bei ihr, aber es war zu spät. Als er den letzten Schritt tat, berührte die Schwertspitze seine Kehle, leicht wie die Finger einer Geliebten. Simon erstarrte. „Genau so“, sagte Anne atemlos.
Das Lächeln auf Simons Lippen zeigte nun fast so etwas wie Bewunderung. „Ich kann nicht glauben, dass ich so unvorsichtig war.“
„Das wart Ihr aber.“
„Seid bitte vorsichtig. Ich habe das Schwert gerade heute Abend geschliffen. Es ist sehr scharf.“
„Gut so“, erwiderte Anne. Sie wusste, dass er jetzt ihre eigene Taktik anwandte, sie zum Sprechen zu bringen, um sie abzulenken. Es war sehr riskant, ein Schwert auf einen ausgebildeten Soldaten zu richten, besonders auf einen so erfahrenen wie Simon Greville. Wenn sie auch nur für einen Augenblick in ihrer Aufmerksamkeit nachließe, würde er sie entwaffnen, schnell und gnadenlos. Sie hielt ihren Blick fest auf das Schwert gerichtet und sah nicht in Lord Grevilles Augen. „Jetzt habe ich Euer Leben, um damit zu handeln, Mylord. Meins gegen das Eure. Das ist ein fairer Tausch. Kommt weg von der Tür. Aber langsam.“
Simon gehorchte ihrem Befehl. Anne bewegte sich vorsichtig in Richtung Tür, die gefährliche Waffe noch immer auf ihn gerichtet. Sie wollte ihn nicht töten, aber sie wusste genau, wie man ein Schwert benutzte. Der Earl of Grafton hatte keinen Sohn; stattdessen hatte er seiner Tochter beigebracht, wie man sich verteidigte.
„Ihr könnt die Klinge senken“, sagte Simon. „Ich werde Euch gehen lassen.“
Anne lachte. „Ihr werdet mich gehen lassen? Denkt Ihr wirklich, dass ich Euch das nach allem, was ihr
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