Geliebte Gefangene
verstohlen eine Träne aus dem Auge. „Er ist ein neuer Mensch, jetzt, da er wieder mit seinem Bruder vereint ist. Lord Greville mag nach außen wie ein harter Mann erscheinen, aber ich würde schwören, dass es ihn tief in der Seele bewegt hat, seinen Bruder lebend wiederzusehen.“
„Das glaube ich wohl.“ Nur zu gut erinnerte Anne sich an die Wut und die Trauer, die sie in Simon gespürt hatte, als er Henry noch für tot hielt. Das Band zwischen den Brüdern war unverbrüchlich.
„Lord Greville hat nach Euch gefragt, Madam“, sagte Edwina. „Er kommt mehrmals am Tag vorbei, um sich zu erkundigen, wie es Euch geht.“ Sie machte eine kleine Pause. „Er kommt selbst, Madam, und schickt nicht nur einen Boten. Er hat gesagt, dass wir ihm sofort mitteilen sollen, wenn ihr aufwacht.“
„Und hast du das gemacht?“, fragte Anne und war gespannt, ob ihre Bediensteten Simons Befehlen ungefragt gehorchten, ohne sie vorher zu konsultieren, oder ob sie loyal zu ihr standen.
Edwina blickte aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. „Ja, Mylady. Ich habe ihm heute Morgen, als Ihr aufgewacht seid, eine Nachricht geschickt. Lord Greville ist kein Mann, dessen Befehle man leichtfertig missachtet, denn wenn er auch fragt, könnte er sich ebenso gut einfach nehmen, was er will.“
„Das stimmt“, bestätigte Anne.
„Er hat gesagt, dass Ihr, sobald es Euch gut genug geht, nach ihm schicken sollt“, fuhr Edwina fort. Sie machte einen Schritt zur Tür. „Soll ich ihm jetzt Bescheid geben lassen, Madam?“
„Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als ihn zu empfangen“, sagte Anne ergeben. Simon Greville war jetzt der Herr von Grafton. Er hätte sie mit der Arroganz eines Eroberers zu sich befehlen können. Aber stattdessen bot er an, zu ihr zu kommen. Das war sehr diplomatisch von ihm, aber Anne vermutete, dass Simons Beweggrund darin bestand, im Moment erst einmal Umsicht walten zu lassen. Er wollte sie nicht unnötig gegen sich aufbringen. Noch nicht.
„Ihr wisst, dass wir alle loyal zu Euch stehen, Madam“, sagte Edwina plötzlich hastig, legte die Bürste auf den Tisch und rang die Hände. Ihr Gesicht verzog sich, als sei sie den Tränen nah. „Wir lieben Euch alle. Aber nach dem Tod Eures Vaters und mit Grafton in den Händen der Parlamentarier wissen wir nicht, was mit uns passieren wird.“ Sie schniefte ein wenig. „Alles, was wir wollen, ist genug zu essen und Ruhe und Frieden. Wir wissen, dass Lord Greville Euer Feind ist, Madam, aber wir wollen nur Frieden in Grafton.“
Anne fühlte, wie ihr Mut sank. Sie verstand, was Edwina ihr sagen wollte. Auch wenn die Bediensteten sie immer lieben und loyal zu ihr stehen würden, so wollten sie keinen Krieg mehr. Sie hatten furchtbar unter Gerard Malvoisiers Herrschaft und der gedankenlosen Grausamkeit seiner Soldaten leiden müssen. Simons Anwesenheit versprach Frieden und die Möglichkeit, in Ruhe zu leben und sicher Handel zu treiben, ihre Häuser wieder aufzubauen und ohne die ständige Bedrohung von Vergewaltigung und Zerstörung leben zu können. Und vor allem versprach er ihnen Schutz in einer unsicheren Zeit. Aber der Preis war, dass sie ihren Treueschwur an die Sache des Königs brechen mussten. Nun waren sie innerlich zerrissen. Sie liebten Anne und wollten sie unterstützen, aber sie wünschten sich auch verzweifelt Frieden.
Anne streckte die Hand aus und berührte die Dienerin am Arm. „Ich weiß, Edwina. Ich verstehe. Wir wollen alle Frieden in Grafton. Wir alle sind des Kämpfens müde. Aber ich kann und werde meinen Treueschwur dem König gegenüber nicht brechen.“
Edwina richtete sich auf. „Nein, Madam. Natürlich nicht. Und ich werde den Schatz des Königs niemals aufgeben. Das schwöre ich. Auch wenn ich möchte, dass Lord Greville uns Frieden bringt, werde ich doch kein Wort verraten. Nicht einmal, wenn sie mich foltern würden!“
„Himmel“, sagte Anne trocken. „Dann sollten wir hoffen, dass es dazu nicht kommen wird.“ Sie seufzte. „Ich bete, dass wir dem König seinen Schatz bald zurückgeben können, ohne dass Lord Greville davon erfährt.“
„Ja, Madam“, stimmte ihr Edwina aus vollem Herzen zu.
Anne strich ihren Rock glatt. „Jetzt gehst du am besten und sagst Lord Greville, dass ich ihn empfangen werde.“
Nachdem Edwina sie verlassen hatte, warf Anne einen letzten mutlosen Blick in den Spiegel. Dann seufzte sie und stand auf. Sie könnte ihre Trauer als Entschuldigung benutzen und sich, so lange sie
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