Geliebte Gefangene
Schauer lief über Annes Rücken. Sie blickte über ihre Schulter zum Tempest Tower. Dann drehte sie sich um und lief wieder die Stufen hinauf.
Der alte Turm brannte langsam. Er war aus solidem Stein gebaut und hielt die Feuchtigkeit von Jahrhunderten. Aber das Schießpulver hatte ihn gefährlich geschwächt, und nun, da das Feuer Fuß gefasst hatte, stand er kurz vor der endgültigen Zerstörung.
Anne tastete sich durch den Korridor zu den Zimmern ihres Vaters. Dichter Rauch nahm ihr die Sicht und brannte in ihrer Lunge. Sie wusste nicht genau, was sie eigentlich tun sollte, aber sie musste noch einmal zurück. Die verzweifelte Eile, mit der sie die Bediensteten hatte retten müssen, hatte ihr keine Zeit gelassen. Sie brauchte einen Moment der Ruhe, um sich zu verabschieden.
Neben dem Bett ihres Vaters fiel Anne auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in dem reich bestickten Überwurf. Sie zitterte unkontrollierbar am ganzen Körper. Dass er sie jetzt verlassen musste, wo sie ihn so dringend brauchte! Sie hatte zugesehen, wie er jeden Tag ein wenig gebrechlicher geworden war. Sein Geist war schwächer und schwächer geworden, und jetzt war er vollkommen verschwunden und sie war wirklich ganz allein. Sie hatte gegen jede Vernunft gehofft, dass er seine Stärke wiedererlangen würde, selbst als sie eigentlich schon wusste, dass das unmöglich war. Aber nun war diese Hoffnung endgültig erloschen. Jetzt war nur noch eine unendliche Verzweiflung in ihr zurückgeblieben.
Der Rauch wirbelte jetzt in dichten Schwaden über den Boden. Anne kämpfte sich auf die Füße und beugte sich hinab, um ihrem Vater einen letzten Kuss auf die eingefallene Wange zu drücken. In diesem Moment schlug die Tür heftig gegen die Wand. Erstickender schwarzer Qualm drang ins Zimmer, füllte Annes Lungen und brachte sie zum Husten. Sie hörte, dass das Feuer näher gekommen war. Holzbalken brachen in einem Funkenwirbel neben ihr zu Boden. Plötzlich wusste sie, dass sie zu lange gewartet hatte. Sie würde an der Seite ihres Vaters sterben, genau wie Malvoisier es gewollt hatte.
Jemand hob sie von hinten hoch und drehte sie zu sich herum. Simon Greville. Sein Gesicht, das bedeckt war von Ruß, Staub und Schweiß, drückte Verärgerung aus. Auf seinem Arm, unterhalb der Schulterkugel, war eine lange Schwertwunde. Das dunkle Haar klebte ihm unter seinem Helm am Kopf. In seinen Augen brannte ein wildes Feuer.
„Was, zum Teufel, tut Ihr hier?“ Sein Griff war schmerzhaft hart, und seine Stimme war kalt. „Wenn Ihr jetzt nicht mitkommt, werdet Ihr Eurem Vater schneller als Ihr denkt ins Grab folgen.“
Verzweifelt versuchte Anne, sich seinem Griff zu entwinden. Doch Simon hob sie mit geradezu beleidigender Leichtigkeit in seine Arme. Er trug sie durch das Zimmer und trat die Tür mit solcher Wucht ein, dass sie endgültig aus ihren Angeln brach.
Tränen liefen über Annes Gesicht und mischten sich mit dem Ruß, während sie einen letzten Blick auf die leblose Gestalt in dem Bett warf. Die Bettvorhänge brannten jetzt lichterloh, und in ihrem bläulich flackernden Licht sah das Gesicht ihres Vaters grau aus. Sie schluchzte auf und schmiegte ihren Kopf für einen kurzen Moment in Simons Halsbeuge. Stolz und Schmerz kämpften in ihr. „Lasst mich hinunter. Ich kann selbst gehen!“
„Durch Flammen könnt Ihr nicht gehen.“ Simons Stimme klang scharf. „Nein, Mylady. Wir beide werden über das Dach entkommen. Das ist jetzt der noch einzig mögliche Weg.“
Er zog sie, noch halb auf seinem Arm, durch die Tür und in das flammende Inferno des Korridors. Die Wandteppiche loderten. Das Feuer wurde von dem heftigen Luftzug, der das Treppenhaus hinaufzog, nur immer mehr angefacht. Simon duckte sich zwischen den Flammen hindurch. Er zog Anne mit sich, ohne ihr eine Möglichkeit des Widerstands zu geben. Ihre Lungen füllten sich mit Rauch, während die lodernden Flammen sich unbarmherzig weiterfraßen. Sie hasteten über die Treppe und hinauf auf das Dach. Eisige Morgenluft schlug Anne entgegen und brachte sie nur noch mehr zum Husten. Der Wind zerrte an ihrem Haar und raubte ihr die Sicht. Funken stoben wie Feuerwerkskörper vor ihren Augen. Das Dach unter ihren Füßen war heiß.
„Schnell!“, befahl Simon schroff, ohne seinen festen Griff um ihren Arm zu lockern. Die Dachschiefer bewegten sich gefährlich unter ihren Schuhen. Mit einem Fluch hob Simon sie wieder in seine Arme und überquerte das Dach mit der Behändigkeit einer Katze. Anne
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