Geliebte Gefangene
hielt den Atem an. Sie versuchte, sich so leicht wie möglich zu machen, denn sie fürchtete, dass eine unbedachte Bewegung sie beide über die Mauerkante und in den Burggraben schicken würde. Endlich erreichten sie den entfernten Wachturm. Auf der Außentreppe stellte Simon sie vorsichtig zurück auf die Füße und hielt sie fest, bis sie die Balance wiedergefunden hatte. Er schien weder außer Atem noch sonderlich beunruhigt zu sein. Annes Beine hingegen zitterten so sehr, als sie die Treppe in den Burghof hinunterging, dass sie stolperte und beinahe gefallen wäre. Sofort schlossen sich Simons Arme wieder fest um sie, und er trug sie die letzten paar Stufen hinunter.
Ein gewaltiges Krachen erklang plötzlich, als würde der Boden selbst sich öffnen, und der obere Teil des Turms stürzte in sich zusammen. Er landete zusammen mit allen Zwischengeschossen in einem großen Schutthaufen aus Steinen, Mörtel und Flammen zu ihren Füßen. Das Feuer zischte, als es den Schnee berührte, und Anne wandte sich ab. Sie konnte Johns und Edwinas Stimmen hören, die sich durch den Schnee zu ihnen vorkämpften. Sie war viel zu müde und unglücklich, um darauf zu bestehen, dass Simon sie wieder auf ihre eigenen Füße stellte. Im Moment brauchte sie die Stärke seiner Arme und den trügerischen Trost, den sie versprachen. Sie legte den Kopf gegen seine gerüstete Brust, schloss die Augen und erlaubte sich, an nichts mehr zu denken, sondern sich für einen kleinen Moment nur sicher und geborgen zu fühlen.
Simon Greville stand auf den Zinnen von Grafton und ließ seinen Blick über das Trümmerfeld im Burghof schweifen. Er fühlte eine wilde Befriedigung, die nur umso stärker war, weil er Grafton mit so wenigen Verlusten von seinem verhassten Feind Malvoisier erobert hatte. Seine Männer hatten die toten royalistischen Soldaten geborgen. Simon würde dafür sorgen, dass sie am nächsten Tag ein ordentliches Begräbnis bekamen. Anders als Malvoisier würde er die Leichname seiner Feinde nicht entehren, geschweige denn die seiner eigenen Männer.
Er stützte sich mit den Händen auf die Burgmauer und sog die klare, reine Morgenluft tief in seine Lungen. Wie er es vorhergesagt hatte, war Grafton gefallen, aber Malvoisier war entkommen. Letztendlich war seine Feigheit so groß gewesen, dass er sich nicht einmal dem Kampf gestellt hatte.
Standish war schon früh in der Schlacht zu Lord Greville gekommen, um ihm zu sagen, dass Malvoisier den Turm in Brand gesteckt hatte. Zuerst hatte Simon es für einen Teil der Verteidigungsstrategie gehalten. Er wusste, dass viele zurückweichende Truppen eine Burg eher niederbrennen würden, als sie in die Hände ihrer Feinde fallen zu lassen. Dann hatte Standish ihm mitgeteilt, dass der Turm von Anne und ihren Bediensteten bewohnt wurde. Blinde Wut hatte Simon ergriffen, als er das ganze Ausmaß von Malvoisiers Tücke und Verrat erkannt hatte. Das Gut in dem Wissen in Brand zu setzen, dass unschuldige Königstreue sterben würden, war mehr als verachtenswert. Der Mann war nun ein Vogelfreier.
Simons Erleichterung, Anne am Burggraben zu sehen, hatte sich schnell in Fassungslosigkeit und Wut verwandelt, als sie in den brennenden Turm zurückgestürzt war. Er hatte Standishs Bemerkung, dass der Turm nicht länger sicher sei, ignoriert und war ihr gefolgt. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Etwas Größeres als Respekt, stärker selbst als Ehre, hatte ihm befohlen, sie zu retten.
Dennoch war er wütend gewesen, nachdem er sie gefunden hatte, so wütend, dass er sie hätte schütteln können. Als er sie hochhob und bemerkte, wie leicht sie in seinen Armen lag, hatten seine Gefühle, eine Mischung aus Erleichterung, Verlangen und Wut, ihn beinahe überwältigt. Er hatte seit der letzten Nacht nur noch an sie denken können, hatte sie mit einer Stärke begehrt, die er noch für niemand anderen in seinem Leben empfunden hatte. Und er begehrte sie noch immer.
Sein Körper schmerzte bei dem Gedanken an sie. Es war nicht nur die Lust eines Soldaten nach einer Frau, irgendeiner Frau. Es war ein tiefes Verlangen nach Anne selbst, das ihn so erschütterte. Die einzige Möglichkeit, sie in Ehre sein Eigen zu nennen, wäre, sie zu heiraten. Aber sie war seine Feindin und würde ihren Treueschwur niemals brechen.
Entschieden richtete er sich auf. Er hatte Grafton erobert, und er würde dasselbe mit seiner Herrin tun. Schon einmal war ihm beides versprochen worden. Jetzt war es an der Zeit, dieses
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