Geliebte Kurtisane
Sir Mark es mit der praktischen Anwendung der Keuschheit nicht allzu genau zu nehmen.“
Ihr wurde fast weh ums Herz, wenn sie daran dachte, dass sie ihre Schwestern so bald schon wieder würde verlassen müssen. Doch es wäre ja nicht für immer. Geschäftig huschten sie nun um sie herum, Ellen legte noch ein letztes Mal Hand an den Schleifen ihres Kleides an. Heute war es endlich so weit, und ein ganzer Schwarm Schmetterlinge flatterte in ihrem Bauch. Charlotte hatte sich zu ihrem Mann in die vorderste Reihe gesetzt, und Ellen verschwand, um ihren Platz als erste Brautjungfer einzunehmen. Sekunden schienen sich zu Minuten zu dehnen. Für diesen Augenblick war Jessica für sich allein.
Das hatte sie zumindest geglaubt. „Hallo?“ Ein kleiner Mann mit buschig rotem Schnurrbart steckte den Kopf zur Sakristei herein.
„Mr Parret. Was machen Sie denn hier?“
„Sie haben mich doch eingeladen“, ließ er sie vergnügt wissen. „Außerdem wollte ich Ihnen das hier geben.“
Er reichte ihr eine Zeitung. Jessica schlug sie auf – und schnappte nach Luft.
Sir Mark endlich verheiratet! verkündete die Schlagzeile.
„Bis die Kirchenglocken das letzte Mal geläutet haben“, erklärte er zufrieden, „werden alle anderen Blätter das Wichtigste aus meinem Artikel übernommen haben.“
An diesem Morgen , las sie, hat Sir Mark Turner sich mit Miss Jessica Carlisle vermählt, Tochter des Reverend Alton Carlisle aus Watford. Unsere Leser dürften mit Interesse erfahren, dass sie besagte Frau war, deren Bericht ihrer Begegnung mit Sir Mark erstmals auf diesen Seiten erschienen ist. Unsere Nachforschungen haben allerlei Interessantes aus ihrer Vergangenheit zutage gebracht, welches wir Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten möchten, da es doch manches in anderem Licht erscheinen lässt.
Ihr „Fall“, so der Artikel weiter, habe darin bestanden, dass sie in jungen Jahren als Reporterin bei einem Londoner Skandalblatt angeheuert habe und daraufhin von ihrer Familie verstoßen worden sei. Das sollte alles sein? stellte Jessica verwundert fest. Es ließ sie irgendwie verwegen und ambitioniert klingen. Und im Vergleich zur Wahrheit geradezu respektabel.
„Mr Parret“, sagte sie kopfschüttelnd, „das ist erstunken und erlogen.“
„Unsinn. Sie waren Reporterin, und eine recht junge noch dazu. Ganze zwanzig Jahre jünger als ich.“
„Wahrscheinlich konnten Sie der Versuchung des schnöden Mammons nicht widerstehen“, neckte sie ihn.
Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. „Sie werden es nicht glauben, aber diese Ausgabe gibt es zur Feier des Tages umsonst. Ihr künftiger Schwager kam kürzlich bei mir vorbei und hat mir erzählt, was Sie getan haben. Mr Smite Turner, nicht der Duke.“
„Und was soll ich laut Mr Turner getan haben?“, fragte sie entgeistert.
„Er meinte, Sie hätten darauf bestanden, meiner Belinda eine gewisse Summe Geld zu vermachen.“ Parret versagte schier die Stimme vor Rührung. „Genug für eine Saison, genug gar für eine Mitgift. Dafür lasse ich mir sogar Lügen über eine Reporterin einfallen.“
„Das hat er gesagt?“ Jessica musste ein Lächeln verbergen. Sie konnte sich genau vorstellen, wie Smite das gemacht hatte – kühl und distanziert wie immer. Aber Jessica hatte nichts dergleichen verfügt. Smite musste es selbst arrangiert haben.
„Wissen Sie, wenn ich …“, begann sie.
„Oh nein, lassen Sie uns jetzt nur nicht darüber streiten.“ Parret reckte sich auf die Zehenspitzen und rückte ihren Schleier zurecht. „Es steht schwarz auf weiß in der Zeitung, und hier kommt auch schon Ihr Vater und sieht recht ungeduldig drein. Sir Mark könnten Sie wohl ein wenig auf die Folter spannen, aber Ihre Majestät sollten Sie nicht warten lassen.“
„Ihre Majestät!“
„Aber ja doch.“ Parret legte ihr seine Hand auf die Schulter und bedeutete ihr, sich umzudrehen. „Damit habe ich nun aber wirklich nichts zu tun. Ein gewisser Herzog hingegen, den wir beide mehr oder minder gut kennen, hat dafür gesorgt, dass die Königin eine Vorabausgabe bekommt. Nachdem sie meinen Artikel gelesen hatte, bestand sie darauf, an der Hochzeit teilzunehmen. Sie wissen ja, wie sentimental der Anblick eines glücklichen Paars sie stimmt. Der Respekt der guten Gesellschaft dürfte Ihnen damit sicher sein. Niemand würde danach noch wagen, auf Sie herabzublicken.“
Sie und Mark hatten bislang nicht beabsichtigt, in London zu leben. Sie würden es gewiss auch jetzt
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