Geliebte Myriam, geliebte Lydia
gelautet haben.
Damit endete Myriam, und unsere liebe Großfamilie dankte ihr mit freundlichem Applaus. Aber dann schien sich doch Widerspruch zu regen. Die Frau Heuberger räusperte sich vernehmlich, um Myriams Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, schwenkte ein dünnes Büchlein und rief nach vorne: 'Fräulein Myriam? Ich hab' mir da ein Buch gekauft, das heißt: Wie liest man Hieroglyphen? Und hier findet sich auf Seite 6 das Hieroglyphen-Alphabet, und da gibt's allein drei Zeichen für „a“, zwei Zeichen für „u“ und je ein Zeichen für „i“ und „y“. Das sind doch alles Vokale, oder wie seh' ich das?'
Da setzte Myriam ein breites Lächeln auf, ergriff erneut das Mikrophon und sagte: 'Sie haben natürlich vollkommen recht. Ich kenne dieses Buch. Aber diese Vokale stellen keineswegs die wahre Aussprache dar, sondern entsprechen der sogenannten ägyptologischen Aussprache. In Wirklichkeit sind das alles genauso Zeichen für Konsonanten wie alle anderen, zum Teil allerdings für Konsonanten, die es zwar im Arabischen, aber, soviel ich weiß, in keiner europäischen Sprache gibt, sogenannte Kehlkopflaute, und daher haben sich die Ägyptologen geeinigt, sie der Einfachheit halber wie Vokale auszusprechen. Und so tun nun manche so, als gäbe es unter den Hieroglyphen auch Vokalzeichen. Alles klar?'
'Ja, danke vielmals!' antwortete die Frau Heuberger. 'Ich war nämlich schon total verunsichert!'
'Hm, lassen Sie mich noch eins erwähnen!' fuhr Myriam fort. 'Um das Verwirrspiel komplett zu machen, gibt es da noch zahlreiche Namen von Göttern und Königen, die uns von griechischen Schriftstellern überliefert sind, zum Beispiel Isis und Osiris, Cheops, Chephren und Mykerinos. Diese griechischen Namensformen sind nicht nur allgemein gebräuchlich, sondern helfen uns manchmal, die wahre Aussprache zu erkennen, so zum Beispiel bei dem großen Gott der Königsstadt Theben, die wir heute noch erreichen werden. Nach den vorhin genannten Regeln der ägyptologischen Aussprache wäre dessen Name als Imen auszusprechen, aber da ihn die Griechen Ammon nannten, ist die heute allgemein übliche Aussprache Amon oder Amun, aber manchmal hört man auch Amen.'
'Amen!' deklamierte eine sonore Männerstimme, die mir sehr bekannt vorkam. Es war, wer hätte es auch sonst sein können, unser lieber Götzi, und mit seiner reichlich vorlauten Bemerkung hatte er tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen, denn Myriam war nun wirklich fertig, die Frau Heuberger lehnte sich befriedigt zurück, und es war wieder einmal Zeit, sich zu entspannen. Und jetzt begannen uns auch schon die Mägen zu knurren, und es wurde Zeit zum Mittagessen. Wo ist denn für heute die Mittagspause geplant? fragte ich Myriam, und sie antwortete: In Assiut. Dann lächelte sie nicht nur süß, sondern, so schien es mir, zugleich auch irgendwie schelmisch und sagte schließlich: 'Assiut ist die wichtigste Stadt Oberägyptens. Und weißt du auch, warum?' Und da ich nur den Kopf schüttelte, gab sie gleich selber die Antwort: 'Erstens, weil sie die größte Stadt Oberägyptens ist. Und zweitens, weil zwei höchst bedeutende Persönlichkeiten in Assiut geboren worden sind. Weißt du zufällig, welche?'
'Nein?' erwiderte ich neugierig.
'Nun, erstens Plotinus ...'
'Wie, jener berühmte römische oder vielmehr griechische Philosoph, der den Neuplatonismus begründet hat?'
'Genau.'
'... den Neuplatonismus, in dessen Gestalt das Heidentum dem Christentum die letzten Rückzugsgefechte geliefert hat? Soso, Plotinus ist also in Assiut geboren worden! Und welche zweite höchst bedeutende Persönlichkeit?'
'Myriam Girgis.'
'Myriam Girgis? Nie gehört.'
'Nein? Aber bestimmt schon öfters gesehen! Sie sitzt neben dir!'
'Ah, du heißt Girgis mit Familiennamen? Das wußte ich ja nicht. Und du bist also in Assiut geboren worden?'
'Ja, meine Familie stammt aus Assiut. Assiut ist nämlich eine überwiegend christliche Stadt.'
'Ach wirklich? Und du bist in Assiut aufgewachsen?'
'Ja, wie ich noch klein war. Als ich elf Jahre alt war, ist meine Familie dann nach Kairo übersiedelt.'
'Da freust du dich sicher, wieder einmal deine alte Heimatstadt zu besuchen?'
'O ja.'
3. Teil
O Isis und Osiris! Welche Wonne!
(SCHIKANEDER – MOZART)
Wie es sich jedoch herausstellte, freute sich Myriam zu früh, und auch die knurrenden Mägen oder vielmehr deren Besitzer freuten sich zu früh auf die Mittagspause in Assiut. Aus der wurde nämlich nichts; und das kam so. Wir
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