Geliebte Myriam, geliebte Lydia
kehrte in den verstümmelten Körper das Leben und sogar die Zeugungsfähigkeit zurück, und so konnte Isis von ihm, dem Toten, ein Kind empfangen. Sie gebar einen Knaben und nannte ihn Horus. Als er herangewachsen war, rächte er seinen Vater, indem er Seth zum Zweikampf herausforderte und besiegte. Daraufhin übergaben die Götter Horus den Thron Ägyptens und verurteilten Seth dazu, seinem Neffen auf ewig untertan zu sein, und die Menschen feierten alljährlich, nicht nur in Abydos, sondern in ganz Ägypten, Mysterien des Begräbnisses und der Wiederauferstehung des Osiris, über deren Hergang wir durch Bilder und Inschriften unterrichtet sind, die wir in den sogenannten Osiriskammern der Tempel von Dendera und Philae sehen werden - in Dendera noch heute, und in Philae in wenigen Tagen.
Damit endete Myriam und hinterließ mir ein Problem: hatte ich nicht erst kürzlich vor versammelter Großfamilie feierlich erklärt, Mysterien seien was Griechisches, und in der traditionellen Religion der Ägypter habe es gar keine Mysterien gegeben? Und so übernahm ich jetzt das Mikrophon aus ihrer zarten, wunderbar weichen Hand - es gelang mir nämlich, diese dabei endlich wieder einmal 'wie zufällig' zu berühren, und konnte beobachten, daß gleichzeitig ein feines Lächeln über ihr Gesicht ging - und begann mit einem Nachwort zum Thema Mysterien. Ich erinnerte an mein Streitgespräch mit Herrn Heuberger über Pyramiden und Mysterien und mußte zugeben, daß die jährlichen Feste, bei denen die Schicksale des Osiris dramatisch und symbolisch dargestellt wurden, allgemein als Mysterien bezeichnet zu werden pflegen - allerdings nicht mit Recht. Denn die Aufführungen fanden im wesentlichen in der Öffentlichkeit unter Mitwirkung von Laien statt. Nur das heiligste Geschehen, das Wiederaufleben, die Auferstehung des Gottes, wurde als ausdrückliches Geheimnis in Räumen, die kein Ungeweihter betreten durfte, von einem engen priesterlichen Kreis gefeiert. Nur auf diesen Teil der Feier könnte der Ausdruck Mysterien eventuell zutreffen. Andererseits will der Umstand, daß dieser Teil der Feier geheim war, auch wieder nicht viel besagen, denn der ägyptische Tempelkult schloß die Laien auf weite Strecken aus. Dazu kommt in diesem speziellen Fall noch die Furcht vor Entweihung: das Geschehen ist zu heilig, als daß es die Gegenwart der Volksmassen ertragen würde. Das und nicht eine irgendwie geartete Geheimlehre erfordert die Geheimhaltung. Wir hören deshalb auch nichts von besonderen Einweihungsriten. Höchstwahrscheinlich ist man auf die Bezeichnung dieses Festes als 'Mysterien' ohnehin nur in gedankenloser Anlehnung an die sogenannten Mysterienspiele des abendländischen Mittelalters verfallen, und die sind bekanntlich etwas vollkommen anderes als die griechisch-römischen Mysterien. Andererseits ist zuzugeben, daß diese Osirisfeiern auf jeden Fall der Frömmigkeit besagter griechisch-römischer Mysterienkulte näher stehen als andere ägyptische Kultfeiern, und es wäre durchaus möglich, daß die hellenistische Isis- und Osirisreligion letztlich in ihnen ihren Ursprung hat.
'... und auch die christliche Religion!' rief eine jugendliche Stimme von hinten, und ich erkannte sie natürlich sofort als die unseres lieben Clemens, und gegen seinen Zwischenruf erhob sich auf der Stelle heftiger Protest, so daß ich eine Zeitlang total außer Gefecht gesetzt war. Als aber der Protest erlahmte, ging ich daran, das zu tun, was man sowieso von mir als dem Reiseleiter erwartete, nämlich mich als Schiedsrichter zu betätigen über Richtig und Falsch, über Gut und Böse, über Schön und Häßlich, und erklärte übers Mikrophon, natürlich habe unser lieber Clemens in jugendlichem Überschwang maßlos übertrieben, aber völlig verkehrt sei das, was er da gesagt habe, nicht; denn das Christentum sei in seiner Entstehung und Ausformung nachweislich von zahlreichen Einflüssen von außen beeinflußt und geprägt worden, und dazu gehörten eben auch die erwähnten Mysterienreligionen und unter diesen wieder ganz besonders die Isis- und Osirisreligion und darüber hinaus noch manches andere ägyptische Element.
Und um eventuelle Zweifler ein wenig zu besänftigen, kam ich etwas unvermittelt, das muß ich zugeben, auf die entscheidende Rolle zu sprechen, die Ägypten bei der Entstehung des christlichen Mönchtums gespielt habe - ja, 'entscheidende Rolle gespielt' sei ein noch viel zu schwacher Ausdruck; man müßte sagen: Ägypten ist
Weitere Kostenlose Bücher