Geliebte Myriam, geliebte Lydia
er mit 'Papyrusbuch' einen Codex meinte.
Schließlich erklärte ich, wir würden morgen abend wiederkommen, und er beschwor mich, ja nicht zu vergessen, und versicherte, bis dahin werde das Papyrusbuch hier sein. Und damit verabschiedete ich mich von ihm mit einem warmen Händedruck und von unserem Freund und Helfer, der die ganze Zeit dabeigestanden war und unsere Transaktionen und Gespräche mit größter Aufmerksamkeit verfolgt hatte, mit erhobener Hand und freundlichem Lächeln, und wandte mich mitsamt meiner angeblichen Familie zum Gehen. Da fiel mir auf, daß uns der Geschäftsinhaber sofort mit gezücktem Schlüssel nachkam und offensichtlich hinter uns zusperren wollte, und ich fragte ihn - eigentlich nur aus bloßer Neugierde -, ob denn heute schon Geschäftsschluß sei. O nein, sagte er drauf, er werde bald wieder aufsperren, aber im Radio - und er wies in die Richtung eines durch einen Vorhang abgetrennten Nebenraums, aus dem schon die ganze Zeit ein Radio krächzte - im Radio also sei soeben durchgegeben worden, daß die Nachtzeit begonnen habe, und daher werde er sich jetzt mit seiner Familie dem langersehnten abendlichen Festschmaus widmen.
'Aha, ein Moslem also!' konstatierte Clemens, während wir nach Hause, das heißt, ins Hotel eilten. Im Zimmer angelangt, stellte sich die Lydia zunächst einmal unter die Dusche und machte sich fürs Abendessen und die anschließende Lustbarkeit schön; inzwischen legte ich mich aufs Bett - nicht, weil ich so faul oder erschöpft war, sondern weil ich so das beste Licht hatte -, holte wiederum mit feierlichen Gefühlen meinen neuerworbenen Papyrus aus dem Briefumschlag und begann ihn in Ruhe zu beäugen und zu studieren. Der Anfang ist, wie ich schon erwähnt habe, stark beschädigt, aber am Schluß erkannte ich, daß es sich um einen Brief handelt, denn in der letzten Zeile las ich: 'Leb wohl!', und mit einer solchen Formel schließt üblicherweise ein antiker Brief. Dann muß also am Anfang der Name des Empfängers im Dativ stehen. Der war aber infolge der Beschädigungen nicht auszumachen. Es war nur zu erkennen, daß er Polizeichef des 'Gaues rund um Theben' war. Der Brief lautet also in Übersetzung:
'An ..., den Polizeichef des Gaues rund um Theben von Osoroeris, dem Sohn des Horus, einem Totenpriester aus Memnoneia' (wahrscheinlich ein Dorf in der Nähe der Memnonskolosse). 'Ich erstatte Anzeige, daß im Jahre 44 ...' (hier fehlt leider der Name des Königs oder römischen Kaisers, von dessen 44. Regierungsjahr hier die Rede ist; inzwischen weiß ich, daß es sich nur um den König Ptolemaios VIII. handeln kann, der von 170 bis 116 vor Christus regiert hat), 'als der hochwohlgeborene Lochos nach Groß-Diospolis gekommen war, irgendwelche Leute, nachdem sie sich an eines der mir im Gau rund um Theben gehörenden Gräber herangemacht und es geöffnet hatten, einige der bestatteten Mumien ausgewickelt und zugleich Geräte im Wert von 10 Kupfertalenten, die ich dort abgestellt hatte, fortgetragen haben. Weil sie die Türe offenließen, geschah es auch, daß unbestattete Mumien von Schakalen gefressen und vernichtet worden sind. Da ich nun Poeris, auch Pkales genannt, und dessen Bruder Phagonis verdächtige, ersuche ich, sie vor dich zu führen und die auf Grund einer Untersuchung gebührende Entscheidung zu treffen. Leb wohl!'
Na, den heutigen Tag muß ich mir wahrhaftig dick mit roter Farbe anstreichen! dachte ich bei mir, als ich mit einem ersten, flüchtigen Studium meines Papyrus fertig war. Der wievielte ist heute eigentlich? Der 16. Februar 1995. Na sowas! Zwei Schätze auf einen Schlag! Und ich fühlte mich in diesem Moment total glücklich - ein Zustand, vor dem übrigens der von mir schon mehrfach erwähnte Herodot immer wieder warnt. Er ist überzeugt und bringt auch Beispiele für seine Überzeugung, daß vollkommenes Glück den Neid der Götter erregt und diese einen total Glücklichen nur umso tiefer ins Unglück stürzen. Ja, und das ging mir damals alles durch den Kopf und machte mich eine Zeitlang ganz schön nachdenklich. Aber dann fragte ich mich: Bin ich denn abergläubisch? Und ich beschloß, mich durch Herodot nicht ins Bockshorn jagen zu lassen und mein Glück ohne Einschränkungen in vollen Zügen zu genießen, denn schließlich lebt man nur einmal, nicht wahr? Und als die Badezimmertür aufging und mein Schatz Nummer 1, übrigens wieder im süßen Miniröcklein, heraustrat, da legte ich meinen Schatz Nummer 2 vorsichtig aufs
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