Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Sara. 'Schwester Emmanuelle ist schon 86 Jahre alt ...'
'86 Jahre ...?' japste Götzi und schaute total erschüttert drein.
'Ja! Sie ist es gewesen, die vor zirka zwanzig Jahren dieses wundervolle Projekt hier ins Leben gerufen hat. Sie nannte es damals Centre Médico-Social „Salam“ Paix (Paix bedeutet Friede) ...'
'Wie?' unterbrach ich sie. 'Salam heißt also Friede im Arabischen?'
'Ja, Salam heißt Friede im Arabischen. Drum begrüßen wir uns ja auch sehr gern mit „Salam“.'
Soso! dachte ich im stillen.
Sie fuhr aber ungerührt fort: 'Inzwischen ist es von mir umbenannt worden zu Centre Médico-Social „Mahabba“ Amour, denn die Liebe ist ja die höchste aller christlichen Tugenden, nicht wahr? Und als Schwester Emmanuelle damals aus Europa nach Kairo kam, gab es niemanden, der sich um die vielen Hunderttausende Lumpensammler hier gekümmert hätte, und sie war die erste, die in christlicher Liebe deren erbärmliches Leben teilte und dabei überhaupt erst kennenlernte. Sie entdeckte, daß fast die Hälfte der Kleinkinder sterben, daß die Überlebenden unter den Kindern zumeist Analphabeten bleiben, sogar die wenigen, die eine Schule besuchen, daß die Jugendlichen dazu verurteilt sind, lebenslang Lumpensammler zu sein, und daß ihre Freizeitbeschäftigung aus Kartenspiel, Alkohol- und Haschischkonsum, Schlägereien und häufig sogar Morden besteht, daß die Erwachsenen vollkommen stumpf und in ihrer Verkommenheit total fixiert sind und daß die Alten verlassen und ohne Würde auf ihren elenden Krankenlagern sterben.
Was Schwester Emmanuelle aber am meisten erschütterte, das ist das Los der Frauen unter den Müllmenschen: schon als kleines Mädchen ständig geprügelt, absichtlich unterernährt und zumeist auch noch beschnitten, wird sie mit zwölf oder dreizehn Jahren gewaltsam verehelicht und bringt in der Folge, eine immer noch ständig geprügelte Sklavin, alle zehn Monate ein Kind zur Welt, nur um die Hälfte von ihnen wieder sterben zu sehen ...'
'Beschnitten?' unterbrach ich sie ungläubig. 'Ich dachte, im Islam werden zwar alle Knaben beschnitten, aber doch nicht die Mädchen?'
'Nun', sagte sie, und ihre Stimme nahm jetzt einen Ton an, als müßte eine Lehrerin einem besonders begriffsstutzigen Schüler einen schwierigen Sachverhalt erklären, 'erstens sind die Müllmenschen in ihrer überwiegenden Mehrheit Christen und nicht Moslems, und zweitens werden in Ägypten, vor allem bei den unteren Schichten und auf dem Land, immer noch fast alle Mädchen beschnitten - und Sie können sich nicht vorstellen, wie grausam das ist!'
Sie hatte recht: ich konnte es nicht. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie das vor sich gehen soll, das heißt, was da genau beschnitten wird. Aber da ich andererseits wußte, was das für ein Körperteil ist, der bei den mohammedanischen und jüdischen Buben beschnitten wird, zähmte ich halt meine Neugier, um die Schwester mit meiner Frage nicht in Verlegenheit zu bringen. Also stellte ich ihr eine andere, weniger peinliche Frage: 'Christen sind die Müllmenschen in ihrer überwiegenden Mehrheit, sagen Sie? Wo kommen die denn her?'
'Oh, in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Oberägypten. In manchen Regionen Oberägyptens leben die Christen ja nicht wie sonst in unserem Land als Minderheit, sondern als Mehrheit, und es gibt dort eine ganze Reihe von Städten wie zum Beispiel El-Minja, Assiut, Dendera oder Luxor, aber auch zahlreiche Dörfer, die fast zur Gänze von Christen bewohnt werden. Nun herrscht in Oberägypten weitverbreitet bittere Armut, und es gibt zahllose völlig verarmte Bauern, die ihre Landwirtschaft aufgeben und auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten mit ihren Familien nach Kairo ziehen. Hier finden sie aber in der Regel keine besseren Verdienstmöglichkeiten, und so enden sie gewöhnlich als Lumpensammler, sind also, mit anderen Worten, auf der Flucht vor Armut in Armut und Elend geraten.'
'So viele Christen gibt es in Ägypten?' warf Götzi ein und schaute ziemlich überrascht drein. 'Und ich dachte, Ägypten sei ein islamisches Land?'
'Oh, ist es auch! Der Islam ist in Ägypten sogar Staatsreligion. Und das bedeutet, daß Christen in unserem Land von vornherein benachteiligt sind. Das äußert sich schon in der Art und Weise, wie man die Stärke der christlichen Minderheit in der Statistik manipuliert. Laut offiziellen Angaben machen nämlich die Christen nur 7 Prozent der Gesamtbevölkerung aus ...'
'Hm - das ist doch gar
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