Geliebte Myriam, geliebte Lydia
öffnen.
Jedoch - während ich noch erfolglos an dieser herummurkste, wurde die Tür von außen aufgerissen und gleich darauf die andere, und nun durften wir endlich aussteigen, frische Luft schnappen und uns die Beine vertreten. Ja, vertreten durften wir sie uns, aber mehr war nicht drin, denn einer hielt mir die auf den Rücken gebundenen Hände fest und drückte sie mir mehrmals, nur so zum Spaß, in die Höhe, und meiner Lydia und der armen Myriam ging's, glaub' ich, nicht besser. Die Myriam hatte übrigens inzwischen mit ihrem Geheul aufgehört und jammerte nur noch leise vor sich hin. Und dann verzog sich einer von diesen blöden Typen hinter den Wagen, und bald darauf hörte man's von dort leise plätschern. Anschließend hörte man ihn im Kofferraum herumkramen, und bald darauf kam er mit einem aufgewickelten Strick zu uns zurück, und was, glaubt ihr, geschah als nächstes? Na, ich will's lieber gleich selber sagen: er pflanzte sich hinter mir auf und begann den Strick zwischen meinen zusammengebundenen Händen einzufädeln und durch den Strick, mit dem sie zusammengebunden waren, hindurchzuziehen und verknotete ihn zu guter Letzt mit ihm. Und genau dasselbe machte er anschließend mit der Lydia und mit der Myriam, so daß wir also schließlich sozusagen auf einen einzigen Strick aufgefädelt waren, oder besser: mit einem einzigen Strick gefesselt waren. Und wißt ihr, daß ich das in gewisser Weise direkt amüsant fand? Mich erinnerte das nämlich an bestimmte mittelalterliche Darstellungen vom Jüngsten Gericht, wie man sie zum Beispiel am Westportal der Notre-Dame in Paris schön sehen kann, aber auch etwa an den Kathedralen von Chartres oder Reims: da sind nämlich die Verdammten, unter ihnen auch Könige, Bischöfe, Mönche und Nonnen, alle mit einer einzigen Kette oder einem einzigen Strick gefesselt, und ein Teuferl schleppt sie ab, um sie in das Feuer der Hölle zu stürzen, und ein weiteres Teuferl taucht hinten an.
Als nächstes holte eines von den Teuferln, pardon: einer von den blöden Typen aus dem Kofferraum einen Riesensack hervor und hängte ihn mir zusätzlich zu meiner Umhängetasche über die Schulter, und zwar so, daß er fast wie ein Rucksack zwischen meinen zusammengebundenen Händen auf dem Rücken hing, und er war genauso schwer, wie er ausschaute. Dann kam Lydia dran und bekam ebenfalls so einen Sack verpaßt, und anschließend Myriam. Aber auch von unseren Freunden, den blöden Typen, hängte sich einer einen Sack um, und die anderen beluden sich mit überdimensionierten Plastikkanistern, unter denen sie nicht schlecht stöhnten. Von diesen blieben wir aus verständlichen Gründen verschont - Ätsch, dachte ich bei mir, selber schuld! Hättet ihr uns nicht die Hände gebunden! So müßt ihr euren Dreck selber schleppen!
Na, und was stand jetzt als nächstes auf dem Programm? Die Rucksäcke ließen ja fast auf eine Bergtour schließen, und tatsächlich befanden wir uns hier am Fuß eines weiter oben reichlich schroffen Berges. Na fein, sagte ich mir, das scheint ja eine ganz besonders hübsche Tour zu werden. Ich hab' eh schon lang keine nächtliche Bergtour mehr gemacht. Und dann wurden die Autotüren zugeschlagen und abgesperrt, und einer stellte sich hinter Myriam und hob das Ende des Stricks auf, und einer stellte sich vor mir auf und nahm das Anfangsstück des Stricks in seine freie Hand, und die zwei anderen nahmen links und rechts von uns Aufstellung und schauten, ob alles in Ordnung ist. Und dann rief einer 'jalla', und der vor mir zog an, und unsere Karawane setzte sich langsam in Bewegung.
Jawohl, es ging bergauf, zuerst nur mäßig, und mit der Zeit wurde es allmählich steiler. Vorerst bot der Weg keine besonderen Schwierigkeiten, das heißt, ein Weg war's eigentlich gar nicht, sondern wir stapften einfach einen weiten, steinigen Hang hinauf, und ich stellte mir vor, das wäre frischgefallener Schnee, über den noch niemand seine Spuren gezogen hat, und der Schnee glitzert im hellen Licht des Vollmonds, und es weht ein herrlicher, kalter Wind. Und so kam ich mit der Zeit beinahe in eine gewisse romantische Stimmung. Erhöht wurde die noch durch das ständige monotone Gemurmel unserer Bergführer, der blöden Typen. Ja, seit unserem Abmarsch murmelten sie alle in einem fort irgendwas in einem seltsamen, monotonen Singsang vor sich hin, und zwar alle dasselbe. Es klang fast wie ein Gebet oder besser wie eine Litanei.
Wie gesagt, unser Weg führte uns mit der Zeit immer
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