Geliebte Myriam, geliebte Lydia
heißt, sie ließen uns einfach stehen und rannten mitsamt ihren Lampen zurück in die Halle, aus der wir gekommen waren. Ja, was ist denn das für eine Art! Uns einfach im Finstern stehenlassen und davonrennen, ohne sich auch nur zu verabschieden! Na, die haben noch eine Menge zu lernen, weiß Gott! Während ich mich noch im Innern aufregte und empört den Kopf schüttelte, spürte ich auch schon Lydias Hand an meinem Arm und ihren Atem im Gesicht, und sie flüsterte: 'Ah, da bist du!', und ich flüsterte: 'Ah, da bist du! Kannst du mir den Strick aufbinden?' Daraufhin tastete sie nach der Stelle, wo meine Hände zusammengebunden waren, und begann am Strick zu reißen und versuchte ihn mir abzunehmen. Und nach einiger Zeit gelang's ihr auch, und meine Arme waren plötzlich wieder frei, und ich umarmte sie als erstes kurz, aber heftig. Dann horchten wir ebenso kurz in die Dunkelheit hinein, hörten aber nichts außer einigen leisen, undefinierbaren Geräuschen, und dann machen wir uns, eng umschlungen, auf den Rückweg, nur der Nase nach, denn zu sehen war ja nichts, und Taschenlampen hatten wir keine dabei. Übertrieben einfach gestaltete er sich nicht, unser Rückweg, muß ich sagen, und ein paarmal stießen wir mit der Nase oder sonst einem Körperteil an eine Säule, und bis wir endlich den Durchgang in die andere Halle entdeckten, wurde unsere Geduld ganz schön strapaziert. Überdies war's in der anderen Halle genauso stockfinster. Hatten sich unsere lieben Freunde verkrümelt? Und hatten sie unsere Myriam mitgenommen? Uns schlug das Herz bis zum Hals; ich spürte auch Lydias Herz wie verrückt schlagen; und wir sprachen die ganze Zeit kein Wort, sondern versuchten uns an den Geräuschen zu orientieren. Und irgendwelche Geräusche waren zeitweise tatsächlich zu hören, und sie klangen nun wie ein unterdrücktes Schluchzen. Denen gingen wir jetzt also nach, das heißt, zu denen tasteten wir uns vorsichtig vor, und plötzlich stießen wir mit den Füßen an etwas Weiches, und wir riefen alle zwei wie aus einem Munde: 'Myriam, bist das du?' Aber es kam keine Antwort - abgesehen von besagten Geräuschen, die jetzt eindeutig von dieser Gestalt am Boden kamen. Ich ließ meine Lydia los und bückte mich und versuchte zu ertasten, was dieses Weiche vor unseren Füßen war. Es war ein weiblicher Körper, und es war ein weiblicher Körper in genauso einem Nachthemd, wie wir eines anhatten, und mit genauso einem Pappendeckel auf der Brust, wie wir einen umhatten, und im nächsten Moment hielten zwei Hände meinen suchenden Arm umklammert. Na, das war zweifellos unsere Myriam - aber warum sagte sie nichts? Oder hatte ich schon wieder Empfangsstörung? Aber nein, ich konnte ja klar und deutlich Lydia hören, wie sie sagte: 'Ist das die Myriam?' Und dann ging mir endlich ein Licht auf, und ich kniete vor dieser liegenden Gestalt nieder und tastete mich mit meiner freien Hand bis zu ihrem Mund vor und fand diesen zugestöpselt. Sofort riß ich ihr den Stöpsel aus dem Mund und warf ihn mit wachsender Empörung in hohem Bogen davon, und im selben Augenblick begann Myriam laut zu schluchzen, und sie schluchzte so bitterlich, daß mir im ersten Moment das Blut in den Adern gefror. Dann legte ich ihr die freie Hand auf die Wange und rief: 'Myriam? Was ist denn mit dir? Warum weinst du denn so? Warum sagst du nichts?' Und während ich noch bei mir dachte: Wieso ist es hier eigentlich so finster?, hörte ich auch schon meine Lydia rufen: 'Wart - ich such' eine Lampe!'
'Eine gute Idee!' rief ich zurück und begann Myriams Wange zu tätscheln, um sie zu trösten, und sie legte ihre Hand auf meine Hand, ohne sie im Tätscheln zu behindern, und zeigte mir durch diese kleine Geste, daß ihr dieser Trost nicht unangenehm war, und daher begann ich sie jetzt auch mit Worten zu trösten.
Das ging so eine ganze Weile. Und plötzlich hörte ich ein Knipsgeräusch, und gleichzeitig leuchtete ein Licht auf, und es kam näher, und schließlich fiel der Lichtkegel auf Myriam und mich, und ich hörte Lydia einen gräßlichen Entsetzensschrei ausstoßen, so daß es mir kalt über den Rücken lief. Und ich sah, daß Myriams Gesicht nicht nur tränenüberströmt war, sondern vor allem schmerzverzerrt und totenbleich, so daß es farblich mit dem schwarzen Kopftuch einen auffallenden Kontrast bildete. Und dann ließ ich meinen Blick an ihrer liegenden Gestalt weiterwandern, und nun schreckte ich mich erst so richtig und wußte gleichzeitig, warum
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