Geliebte Myriam, geliebte Lydia
'Askese'. Es bezeichnet, wie gesagt, das Training, ursprünglich der Athleten und Soldaten, und da sich die frühchristlichen Eremiten und Mönche entweder als Athleten Christi oder als Soldaten Christi fühlten, verwendeten sie das Wort im übertragenen Sinn zur Bezeichnung ihrer entbehrungsreichen Lebensweise. Auch unser Herr Eremit nennt sich ja in dieser Inschrift ausdrücklich Tugendkämpfer, der sich hie und da vom Training ausruht. Und wie macht er das? Na, offenbar, indem er sich, erschöpft vom Bibellesen, Beten, Meditieren und Fasten und vielleicht auch von der Selbstgeißelung, auf seine Lagerstatt hinlegte und zu schlafen versuchte; und als Bestätigung dieser Auffassung sah ich die Erwähnung des 'nächtlichen Kampfes' im folgenden an. Wieso 'nächtlicher Kampf''? Mit wem oder womit mußte der Arme nächtlicherweile, das heißt also unter diesen Umständen: im Schlaf, kämpfen? Laut Inschrift mit den Dämonen. Die Dämonen kämpften gegen ihn, quälten ihn, bedrängten ihn im Schlaf. Na gut, so weit kam mir das irgendwie bekannt vor, denn in meinen Träumen wimmelte es zur Zeit ja auch von Teuferln, nicht? Das mußte diese Unterwelt so an sich haben. Aber was soll das heißen: die Dämonen schleppten ihn zum Leiden des Fließens? Das machten sie mit mir jedenfalls nicht. Das 'Leiden des Fließens'. Das klang nach medizinischem Fachausdruck, und da bin ich nicht besonders gut - ich meine: im Griechischen. Die Dämonen bedrohten während seines Schlafs seine Tugend und schleppten ihn zum Leiden des Fließens? Und dann mußte ich plötzlich an Myriams längere Geschichte gestern abend denken, und dabei fiel mir spontan des Rätsels Lösung ein: er meinte natürlich die nächtlichen Samenergüsse, der Gute, und was den islamischen Jugendlichen wenigstens noch erlaubt ist, weil man's nämlich nicht gut verbieten kann, das haben sich die christlichen Tugendkämpfer, die armen Schweine, auch versagt. Jetzt war alles klar: Christus stand ihm in diesem nächtlichen Kampf bei und weckte ihn - hoffentlich - immer rechtzeitig auf, um das Schlimmste zu verhindern. Also, in der Hinsicht, muß ich sagen, war ich viel tugendhafter als der heilige Mann. Mit nächtlichen Samenergüssen bedrohten mich die Teuferln nicht. Aber gut, ich tat auch was dagegen.
So, nun war also klar, was das 'Schlachtfeld der Dämonen' ist: das Bett des Herrn Eremiten. Damit war die dritte Halle mehr oder weniger erledigt, und wir kamen nun in die letzte kleine Kammer mit der abgeschrägten Ecke, falls ihr euch erinnert. Was gab's in ihr zu entdecken? Verwirrendes und Erregendes, aber zunächst total Unverständliches. Genau auf besagter abgeschrägter Ecke las ich nämlich ungefähr in Kniehöhe folgende Inschrift:
In deinem unerforschlichen Ratschluß, o Herr,
wie du einst auch Abraham auf die Probe stelltest,
stellst du deinen Sklaven Epiphanios auf die Probe,
indem du den Abgang ins Schatzhaus der Dämonen zeigst.
Jedoch ein Soldat Christi ist nicht zu verführen
durch Gold und Silber und edle Steine;
er verachtet sie als Werke Satans
und hofft, dereinst im Paradies
weit größere Schätze zu gewinnen.
Naja, jetzt war wenigstens klar, wie unser Eremit heißt: Epiphanios nämlich. Aber sonst? Sonst war gar nichts klar - außer daß in einer der Inschriften nebenan schon einmal von einem 'nahen Schatzhaus der Dämonen' die Rede gewesen war. Befanden wir uns hier in ihm? Und dann fiel mir auf einmal eine interessante Parallele auf. In der allerersten Inschrift, der über dem Eingang, die ich noch nicht hatte kopieren können, da kamen doch unter anderem folgende Worte vor: 'dieser Weg führt in die 'Welt der Begierden'. Und hier hieß es jetzt: 'du zeigst den Abgang ins Schatzhaus der Dämonen'. Nur: wo war da ein Abgang? Apropos Abgang: dieses Wort ist ja zweideutig, nicht wahr? Es bedeutet entweder den 'Weggang' oder den 'Weg hinunter'. Was an dieser Stelle gemeint ist, ist der Weg 'Weg hinunter', griechisch 'káthodos'. Ich sagte meinen Süßen, daß sich laut Inschrift hier irgendwo ein Abgang, ein 'Weg hinunter', befinden müßte, und daß dieser 'Weg hinunter', immer laut Inschrift, zu einem 'Schatzhaus der Dämonen' führen müßte und daß dort Gold, Silber und Edelsteine zu finden sein müßten. Sie fanden diese Mitteilung höchst aufregend und begannen die Kammer mit ihren Lampen abzusuchen; aber da war absolut nichts und auch nicht der geringste Hinweis auf einen Abgang zu finden. Aber meiner Lydia fiel dabei was auf.
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