Geliebte Myriam, geliebte Lydia
unseres Eremiten entstanden ist. Diese irrsinnslange Inschrift hatte ich bisher übersehen, und ich entdeckte sie erst heute im Rahmen unserer detaillierten Untersuchung; und sie ist so hoch angebracht und so klein geschrieben, daß mir das Entziffern, das heißt, das Lesen, echte Schwierigkeiten bereitete. Beim normalen Stehen auf dem Boden konnte ich nämlich fast gar nichts erkennen, auch dann nicht, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Dann probierte ich was aus: ich stützte mich mit den Händen auf den Schultern meiner zwei Süßen ab und ließ mich von ihnen nach dem Prinzip der sogenannten Räuberleiter in die Höhe heben, so hoch sie's konnten, und dann nahm ich eine Hand von der einen Schulter weg und beleuchtete die Inschrift mit der Taschenlampe; und auf diese Weise konnte ich sie wunderbar lesen. Trotzdem war das natürlich auch nur ein Notbehelf, denn an Kopieren war so nicht zu denken, abgesehen davon, daß mich meine Süßen nie so lang hätten halten können. Das Kopieren war also erst später möglich, nachdem wir eine weitere, ganz und gar unerwartete Entdeckung gemacht hatten, und solange ich die Inschrift nicht kopiert hatte und in aller Ruhe studieren konnte, gelang es mir auch nicht, ihren wahren Sinn vollständig zu enträtseln. Und überhaupt verstand ich beim allerersten Mal sowieso nur Bahnhof. Trotzdem will ich sie euch gleich einmal zur Gänze zu Gehör bringen, denn inzwischen kann ich sie perfekt auswendig, und außerdem - so viel will ich euch jetzt schon verraten - hat sie sich als die bei weitem bedeutsamste unter allen Inschriften der Hotelsuite erwiesen. Sie lautet also in Übersetzung folgendermaßen:
Hüte dich vor diesem Weg wie vor den Reizen der Frauen:
nach außen sind sie lieblich anzusehen,
ihre Stimme tönt süß wie Musik von Flöten,
durch ihren Duft betören sie gleich blühenden Rosen;
hinter der lieblichen Maske aber lauert der Verführer,
die Musik der Flöten wird zum Gesang der Dämonen,
und die duftende Rose verwundet durch ihre Dornen.
Und so führt auch dieser Weg in die Welt der Begierden,
wo eine materielle Sonne ihre Strahlen entsendet
und durch diese ihren Verehrer zu erfreuen scheint;
zu spät erst merkt er, daß sie ihn verbrennen,
und er erkennt, daß jenes das Reich der Dämonen ist
und daß, wer dort bleibt, für alle Ewigkeit verloren ist.
Hier dagegen, wo das materielle Dunkel herrscht,
regiert die wahre Sonne meines Herrn,
und ihre geistigen Strahlen erquicken mich, seinen Sklaven,
und erfüllen meine Seele mit geistiger Helligkeit
und mit den ewigen Freuden des Paradieses.
Also, wie gesagt, mit diesen poetischen Ergüssen wußte ich anfangs überhaupt nichts anzufangen, und sobald meine zwei Süßen nicht mehr konnten, ich meine: mich nicht mehr halten konnten, und das war schon sehr, sehr bald, ließ ich mich eben absetzen und zog enttäuscht weiter in der Hoffnung, mit der nächsten Inschrift mehr Erfolg zu haben. Die nächste längere Inschrift fand sich in der Ecke rechts vom Eingang, erfreulicherweise genau in Augenhöhe, und das erste, was mir auffiel, war der Umstand, daß darunter mehrere quadratische Löcher in die Wand eingelassen sind, immer zwei nebeneinander, und zwar ohne Rücksicht auf die Wandgemälde, die dadurch auf relativ gefühllose Weise beschädigt sind. Es sah ganz so aus, als wären da einmal Träger für Regale oder sowas Ähnliches befestigt gewesen. Und darüber steht nun also besagte Inschrift. Im Vergleich zur ersten ist sie ausgesprochen kurz. Sie lautet in Übersetzung:
Dies ist das materielle Schatzhaus.
Wie wohlschmeckend ist doch deine geistige Nahrung, o Herr,
die du der Seele spendest, und wie gewöhnlich und verächtlich
ist dagegen die, durch die das Fleisch getröstet werden will!
Das übersetzte ich meinen zwei Süßen vor, und daraufhin erklärte Myriam die Stelle auf Anhieb als Vorratskammer, und das leuchtete Lydia und mir auch ohne weiteres ein.
Bemerkenswert fand ich im großen Säulensaal ansonsten nur noch eine ebenfalls relativ kurze Inschrift. Sie befindet sich in der der Vorratskammer diagonal gegenüberliegenden Ecke, das heißt also, am Ende der Wand mit dem zugemauerten, wahrscheinlich ursprünglichen Eingang und damit vermutlich an der Außenwand der gesamten Hotelsuite. Dort steht etwa in Brusthöhe:
Dies ist der Abgang (so meine anfängliche Übersetzung).
Hier, ganz nah dem Reiche der Dämonen,
wird den Dämonen die ihnen gebührende Ehre zuteil.
Mit
Weitere Kostenlose Bücher