Geliebte Myriam, geliebte Lydia
dieser Inschrift fing ich fürs erste gar nichts an, und auch meine zwei Süßen konnten überhaupt keinen Sinn in ihr erkennen, nicht einmal Myriam, die doch bei der letzten sofort geschaltet hatte. Ich erinnerte mich nur, daß der Begriff 'Reich der Dämonen' schon in der ersten langen Inschrift über dem Eingang vorgekommen war; aber das war im Moment auch alles.
In der anschließenden Pfeilerhalle konnte ich nur eine einzige bemerkenswerte Inschrift entdecken. Dort heißt es:
Ein Fluß geht aber hervor aus Edem (oder, zu deutsch: Eden),
um das Paradies zu bewässern.
O Herr, reinige auch die Seele deines Sklaven.
Eine reine Seele ist zehntausendmal heilsamer als ein reiner Körper.
Hier wußte Myriam wieder auf Anhieb die Deutung. Sie erkannte den ersten Satz als Bibelzitat und vermutete, daß die Worte die Stelle bezeichnen, wo der Eremit seine Wasservorräte gelagert hatte und sich zu waschen pflegte. Und Lydia glaubte hierauf aus diesen Worten herauslesen zu können, daß er sich nicht übertrieben gründlich und auch nicht übertrieben häufig wusch, vielleicht zu allen heiligen Zeiten einmal, wenn überhaupt. Naja.
In der dritten Halle erwiesen sich zwei Inschriften als sehr interessant. Beide waren uns beim ersten Lesen absolut rätselhaft und ergaben schon nach einigem Nachdenken einen vollkommen befriedigenden Sinn. Die eine lautet folgendermaßen:
Dies ist das Schlachtfeld der Dämonen.
O Herr, warum bedrängen mich die Dämonen so sehr
und quälen mit ihren Pfeilen deinen Tugendkämpfer,
sooft er sich vom Training ausruht?
Indem sie jedoch gegen mich kämpfen, kämpfen sie gegen dich,
und sooft sie mich zum Leiden des Fließens schleppen,
stehst du mir in meinem nächtlichen Kampfe bei
und schlägst die bösen Feinde in die Flucht.
Und so werde ich mit deiner Hilfe letztlich siegreich bleiben.
Und so die andere Inschrift:
Dies ist das geistige Schatzhaus.
Hier halte ich fromme Zwiesprache mit dir, o Herr,
und hier sprichst du zu deinem treuen Sklaven
und tröstest seine im Kerker schmachtende Seele,
indem du sie mit deinem geistigen Licht erleuchtest,
und verheißt ihr ewiges Glück in deinem Paradies,
wenn sie das nahe Schatzhaus der Dämonen nicht beachtet.
Wie gesagt - diese beiden Inschriften waren uns anfangs vollkommen rätselhaft. Aber dann leuchtete uns auf einmal irgendein geistiges Licht, und wir konnten uns zumindest die zweite Inschrift erklären. Wir hatten ja schon ein materielles Schatzhaus gehabt und als Vorratskammer für Speisen erklärt. Na, und hier hatten wir's nun eben mit einem geistigen Schatzhaus zu tun, und hier müssen wohl die geistigen Speisen gelagert gewesen sein. Und was sind geistige Speisen anderes als Bücher und Software? Tatsächlich entdeckten wir unter dieser Inschrift wieder genau solche quadratischen Löcher in der Wand. Und noch was entdeckten wir dort: die Malereien, offenbar große Götterfiguren - es sind gerade noch die Umrisse zu erkennen -, sind an dieser Stelle beschädigt, und zwar, so sieht's aus, vorsätzlich beschädigt, nämlich teilweise abgeschlagen. Also muß das eine geweihte, eine besonders heilige Stelle gewesen sein, denn die heidnischen Götter - das sind ja die Dämonen. Und drum nahmen wir an, daß dort zumindest die Bibel deponiert war und unser Eremit dort in ihr las und betete oder, wie er's selber formulierte, 'fromme Zwiesprache mit Gott hielt'. Den 'Sklaven Gottes' hatten wir ja schon einmal gehabt, und wie wir wissen, nennen sich besonders fromme Leute heute oft noch so, nur daß man jetzt dafür etwas eleganter 'Diener Gottes' sagt, nicht wahr? Der Ausdruck 'im Kerker schmachtende Seele' kam meinen zwei Süßen zwar irgendwie bekannt vor, aber ich belehrte sie, daß hier bestimmt nicht das gemeint ist, woran sie dachten, sondern der Körper als Kerker der Seele, dem sie genauso zu entfliehen trachtet wie wir unserem 'materiellen' Kerker, um es in der Terminologie unseres Herrn Eremiten zu sagen. Das übrige war dann ohne weiteres klar - mit einer Ausnahme: auf das 'nahe Schatzhaus der Dämonen' konnten wir uns zu dem Zeitpunkt absolut keinen Reim machen.
Wesentlich mehr Kopfzerbrechen bereitete uns hingegen die erstgenannte Inschrift in dieser dritten Halle. Was unter einem 'Schlachtfeld der Dämonen' zu verstehen sein soll, war uns die längste Zeit völlig schleierhaft. Mir fiel als allererstes das Wort 'Training' auf, denn das heißt im Original 'askesis', und davon kommt natürlich unser Wort
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