Geliebte Myriam, geliebte Lydia
hielt ich persönlich die Hotelsuite am aussichtsreichsten, weil dort ja Spuren einer späteren Benutzung als Einsiedelei zu erkennen waren. Also gut, dann auf in die Hotelsuite!
Damit ihr das Folgende besser versteht, muß ich jetzt erst einmal eine kurze Beschreibung dieser Hotelsuite geben. Der roh ausgehauene Gang, den man übrigens teilweise tief gebückt zurücklegen muß, führt zunächst in einen großen, rechteckigen und mit prachtvollen Malereien ausgestatteten Säulensaal; nur die Decke ist ganz schwarz, offenbar rußgeschwärzt, und besagte Wandmalereien weisen eine auffällige Lücke auf: an der von der Eingangsseite aus gesehen rechten Wand prangt genau in der Mitte eine große, fast quadratische Fläche, die nicht nur nicht bemalt, sondern nicht einmal verputzt ist und auch nicht aus gewachsenem Fels, sondern aus mehr oder weniger regelmäßigen Steinquadern besteht. Das war ganz offensichtlich der ursprüngliche Eingang, den man, scheint's, nach dem Begräbnis zugemauert hatte. Erstaunlich nur, daß ihn weder die Grabräuber noch die christlichen Eremiten geöffnet hatten; offenbar war er inzwischen von außen her unzugänglich geworden.
Genau gegenüber diesem mutmaßlichen ursprünglichen Eingang führt ein schmaler Durchgang in eine lange, aber relativ schmale Halle mit zwei Reihen viereckiger Pfeiler. An deren Ende führt ein weiterer schmaler Durchgang in einen noch kleineren, quergelagerten Raum mit drei Säulen, und hinter dem gibt's noch einen letzten, besonders schmalen Durchgang, der in eine allerletzte kleine Kammer führt. Diese ist wie die drei übrigen Hallen grundsätzlich rechteckig, nur eine der vier Ecken ist seltsamerweise abgeschrägt.
Alle diese vier Hallen sind nicht nur mit wunderschönen Malereien und Hieroglypheninschriften geschmückt, sondern enthalten auch, wie ich schon einmal erwähnt habe, bescheidene griechische Inschriften und noch bescheidenere Zeichnungen, die, weil thematisch zusammengehörig, aus derselben Zeit stammen dürften, nämlich offensichtlich aus der Zeit des Christentums in Ägypten. Man findet da nämlich etliche Darstellungen von Christus, einmal nur so mit dem Nimbus um den Kopf und dem Alpha und dem Omega zu beiden Seiten, einmal als guten Hirten mit einem Schäflein auf den Schultern, und so weiter, dann mehrfach das sogenannte ägyptische Kreuz, eigentlich die Hieroglyphe für 'Leben', und andere christliche Symbole, mehrere Heiligenfiguren mit den beigeschriebenen Namen und verschiedenen Anrufungen, etliche Szenen aus dem Alten oder Neuen Testament, und so weiter, und so fort. Der Herr Eremit, falls es nur einer war, scheint ein begabter oder jedenfalls ehrgeiziger Künstler, aber auch ein verkappter Dichter gewesen zu sein, denn die Wände wimmeln von Inschriften - na, wimmeln ist vielleicht ein bisserl übertrieben; aber sie sind doch ziemlich zahlreich, zahlreicher jedenfalls, als ich zunächst gedacht hatte.
Und diese griechischen Inschriften - ich sagte es schon - hatten nun mein ganz spezielles Interesse erweckt, und ich hoffte im stillen, in ihnen den Faden der Ariadne zu entdecken. Im großen und ganzen zerfallen sie in zwei Gruppen: die erste Gruppe bilden sehr poetisch formulierte Gebete, Lobpreisungen Gottes und ähnliches von der Sorte. Mit den Inschriften der zweiten Gruppe konnte ich zunächst nicht viel anfangen. Mit der Zeit fiel mir aber auf, daß sie anscheinend jeweils die Stelle, an der sie stehen, irgendwie beschreiben, und damit rückten sie klarerweise in den Mittelpunkt meines Interesses, weil sie eben Licht auf die Wohnverhältnisse und Lebensumstände unseres Herrn Eremiten zu werfen schienen.
Mit allen diesen poetischen Ergüssen kann ich euch jetzt natürlich nicht beglücken und möchte es auch nicht; das würde wirklich zu weit führen. Aber ich habe sie alle sorgfältig kopiert und beabsichtige, sie genauso wie meine Papyri zusammen mit Übersetzung und Kommentar zu veröffentlichen, aber erst nach den Papyri. Mit einer kleinen Auswahl aus meiner Sammlung muß ich euch jetzt aber doch gleich bekannt machen, weil ... Naja, hört nur zu und urteilt selber!
Als erstes wäre da zu erwähnen eine lange Inschrift genau über dem Eingang; und damit beweist sie nebenbei, daß dieser roh ausgehauene Gang, durch den man besagte Hotelsuite betritt und der auf die Wandgemälde überhaupt keine Rücksicht nimmt und sicher erst von Grabräubern angelegt worden ist, nach der Fertigstellung der Grabanlage, aber vor der Zeit
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