Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Ihr fiel auf, daß der Boden uneben war. Das war er zwar sonst auch ziemlich häufig, und unsere Lagerstatt, wo ich immer meine nächtlichen Abenteuer erlebte, lag - ihr werdet euch erinnern - auf genau so einer Unebenheit. Das war offenbar alles angehäufter Wüstensand, und auf ihm zu liegen war auf die Dauer überhaupt nicht unangenehm.
So ein angehäufter Wüstensand bedeckt also auch einen Teil des Bodens dieser kleinen Kammer, und zwar in einem größeren und steileren Haufen als sonst, soweit wir das beurteilen konnten; denn solche Details hatten wir bisher kaum beachtet. Und zwar war das so, daß sich besagter Sandhaufen an die abgeschrägte Ecke anlehnte und in ihr sozusagen gipfelte. Das war dann vielleicht auch der Grund, warum die Inschrift so weit unten angebracht war. Wenn das aber wirklich der Grund war, dann setzte das voraus ...
'Was setzt das voraus, liebste Lydia?'
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: 'Daß zur Zeit unseres Eremiten der Boden entsprechend niedriger war.'
'... und unter dem Sand ...?'
'... und unter dem Sand irgendwas verborgen sein könnte.'
'Als da wäre?'
Lydia warf mir einen irgendwie schelmischen Blick zu und sagte in fragendem Ton: 'Ein Abgang zum Beispiel?'
Und ich ließ mir ihre Worte auf der Zunge zergehen und wiederholte nachdenklich: 'Ein Abgang zum Beispiel.' Dabei fiel mir ein, daß wir das Wort 'Abgang' schon in einer anderen Inschrift gehabt hatten, und ich begann meine Abschriften durchzublättern. Tatsächlich, gleich zu Beginn der zweiten kopierten Inschrift heißt es lakonisch: 'Dies ist der Abgang.' Ja, aber im griechischen Original steht da ein anderes Wort, nämlich 'apópatos', wörtlich 'der Weggang'. Naja, aber am Ende verbirgt sich dort auch irgendwo ein Loch, das uns in die Außenwelt führen könnte? Und ich erinnerte mich, daß sich diese Inschrift an der vermutlichen Außenwand befindet, in der ja auch der zugemauerte ursprüngliche Zugang ist. Wie geht die Inschrift weiter? 'Hier, ganz nah dem Reiche der Dämonen ...'
'Liebste Myriam, was versteht die koptische Kirche unter dem Reich der Dämonen?'
'Hm ... ich bin nicht sicher, aber ich glaube, die Wüste.'
'Ha, die Wüste!' rief ich aus. 'Dann gibt's dort einen Ausgang in die Wüste, ich meine: unter einem Sandhaufen oder so!'
Jetzt meldete sich wieder meine Lydia zu Wort. 'Ich hab' dort aber keinen Sandhaufen gesehen!' meinte sie mit skeptischer Miene. 'Jedenfalls kann ich mich an keinen erinnern. Du?' Und damit wandte sie sich an Myriam. Nein, Myriam konnte sich auch an keinen Sandhaufen erinnern. Das konnte ich mich zwar auch nicht, aber jetzt war ich nicht mehr zu halten, und mit den Worten 'Das haben wir gleich!' stürmte ich auch schon davon, stürmte durch die ganze Hotelsuite zurück und stürmte auf die Stelle der Außenwand mit der betreffenden Inschrift zu. Und was bot sich meinen Augen dar? Eine im großen und ganzen ebene Bodenfläche. Während ich noch dastand und verwirrt und enttäuscht auf den Boden starrte, kamen meine Süßen nachgezockelt, und Lydia legte ihre Hand auf meine Schulter und flötete: 'Vielleicht hast du doch recht, Schatzilein. Schau: stehen wir hier auf dem Felsboden? Nein, wir stehen auf Sand. Wer weiß, was sich darunter verbirgt!'
Genau! Wer weiß, was sich darunter verbirgt! Obwohl, wie gesagt, einen 'Weg nach unten' bezeichnet das hier verwendete Wort nicht, sondern einen 'Weggang' oder 'Weg weg'; aber was anderes wollten wir eh nicht, nur eben weg von hier.
Plötzlich sagte Lydia: 'Schatzilein? Hast du eigentlich deinen tibetanischen Löffel eingesteckt?'
'Meinen tibetanischen Löffel?' erwiderte ich leicht verblüfft. 'Ja, natürlich. Wozu denn?'
'Würdest du ihn mir leihen, damit ich mit ihm ein bisserl den Sand abgraben kann?'
'Sand abgraben?' wiederholte ich etwas bestürzt.
'Ja, ich weiß schon, daß du ihn hegst und pflegst wie ein Heiligtum. Aber wir haben nun einmal keine anderen Löffel zur Verfügung und auch sonst keine Werkzeuge, mit denen man graben könnte.'
Lydia hatte recht, und zwar in jeder Hinsicht. Und natürlich hatte sie auch insofern recht, als es absolut sinnvoll war, meinen wunderschönen tibetanischen Silberlöffel anstelle einer Schaufel zum Sandabgraben einzusetzen. Ich suchte ihn auch gleich aus meiner Tasche heraus, dankte ihr für die Anregung und erklärte, das Graben würde ich schon selber besorgen. Ich überlegte kurz, bemühte mich, meinen Widerwillen zu überwinden, und begann es dann den
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