Geliebte Myriam, geliebte Lydia
angekommen, warf ich zunächst einmal meinen voraussichtlich allerletzten sehnsüchtigen Blick auf die Inschrift über dem Eingang. Darauf eilte ich weiter an die Stätte unseres heutigen Wirkens, kniete mich vor unserem Schönen Loch ehrfürchtig nieder, leuchtete mit beiden Taschenlampen in das 'Schatzhaus der Dämonen', um bei der Terminologie unseres hochwürdigen Herrn Eremiten zu bleiben, hinein und betrachtete eine Zeitlang diese 'dämonischen' Schätze. Dann legte ich mich ganz auf den Boden, krabbelte ein Stück ins Schöne Loch hinein, langte mit dem rechten Arm nach unten, ergriff die Lehne des Stuhls und zog diesen ohne besondere Schwierigkeiten zu mir herauf und durchs Schöne Loch durch. Ich stand wieder auf und ging einmal andächtig um den Stuhl herum: er schien recht solid aus Holz gebaut, wies aber keinerlei Verzierungen oder so auf. Seine Sitzfläche bestand aus einem Geflecht aus schmalen Lederriemen, aber dieses hatte uns zuvor ausgehalten, ohne Schaden zu nehmen, und würde mich bestimmt auch jetzt tragen. Sodann nahm ich ihn in die Hand und trug ihn erwartungsvoll zum Eingang.
Und jetzt war endlich der langersehnte Augenblick gekommen. Ich stellte den Stuhl nieder, stieg auf ihn drauf und richtete den Lichtstrahl beider Taschenlampen auf die Inschrift. Gelesen hatte ich sie ja schon einmal flüchtig, nicht wahr, aber so gut wie nichts davon verstanden. Jetzt las ich sie erst einmal in aller Gemütsruhe und wurde sofort von einer unglaublichen Erregung gepackt; inzwischen war ich ja die etwas schwülstige und blumige Ausdrucksweise des guten Epiphanios schon einigermaßen gewohnt und begann daher jetzt allmählich in seinen Worten einen Sinn zu erkennen und ihre Botschaft zu dechiffrieren. Ich hab' euch die Inschrift ja schon einmal in ihrer Gänze mitgeteilt und kann mich jetzt darauf beschränken, die wichtigsten Passagen zu wiederholen. Sie lauten - ihr erinnert euch? -: 'Hüte dich vor diesem Weg wie vor den Reizen der Frauen' ...“
„Na, der hat's notwendig!“ wirft die Henne lachend ein.
„Ja, gelt?“ erwidert Giggerle und fährt fort: „... 'Und so führt auch dieser Weg in die Welt der Begierden, wo eine materielle Sonne ihre Strahlen entsendet' (und das heißt doch nach allem, was ich bisher mitgekriegt hatte, offenbar: ins Freie!) ... 'und er erkennt, daß jenes das Reich der Dämonen ist' (und ich erinnerte mich, daß laut Myriam die koptische Kirche unter dem Reich der Dämonen die Wüste versteht).
Ja, das hieß also nicht mehr und nicht weniger, als daß es von hier aus irgendwo ins Freie ging - und wie ich aus dem Papyrus wußte oder zumindest zu wissen glaubte, nicht durch den senkrechten Schacht, durch den wir selber in dieses unterirdische Labyrinth gekommen waren, sondern vermutlich auf viel kürzerem und einfacherem Weg, der allerdings über einem Abgrund endete - außer ich täuschte mich total.
Ich öffnete meine Umhängetasche, holte einen Notizblock und einen Kuli heraus und versuchte, die Inschrift irgendwie zu kopieren. Aber so sehr ich mich auch bemühte und meinen Einfallsreichtum strapazierte und alle möglichen Haltungen und Stellungen ausprobierte - es ging einfach nicht; ich hätte drei oder noch besser vier Hände haben müssen, um gleichzeitig zur Inschrift hinaufzuleuchten, meinen Notizblock anzuleuchten, diesen zu halten und außerdem noch auf ihm zu schreiben. Nachdem ich aber leider kein indischer Gott bin und keine vier Hände besitze, verlor ich bald die Geduld; und überhaupt interessierte mich inzwischen was anderes noch weit mehr, nämlich die Frage: Wo ist der Weg, der in die Welt der Begierden, ins Reich der Dämonen führt? Und ich sagte mir: Das Kopieren kann ich morgen genauso gut erledigen; die Inschrift läuft mir nicht davon; gehen wir gescheiter den Weg suchen!
Ich steckte also Notizblock und Kuli wieder ein, stieg vom Stuhl herunter und wollte mit der Suche beginnen. Aber wo? Ich bedachte mich einen Augenblick, stieg dann noch einmal auf den Stuhl, leuchtete noch einmal zur Inschrift hinauf und versuchte mir die betreffenden Passagen einzuprägen, vor allem diese: 'Und so führt auch dieser Weg in die Welt der Begierden' und so weiter. Und das bedeutete doch klipp und klar: im Gang muß ich suchen, oder nicht? Wenn's doch über dem Eingang in besagten Gang steht! Also gut: ich stieg wieder herunter, rückte den Stuhl ein wenig zur Seite und begann mit der Suche. Systematisch begann ich die Wände und die Decke und sogar den Boden
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