Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Ausdruck unheimlicher Entschlossenheit in die Tiefe späht, und hinter ihm steht der Alte und ruft 'Spring!', und der Knabe dreht sich noch einmal kurz um und wirft ihm einen angsterfüllten und demütigen Blick zu und wendet sich sofort wieder ab, zögert, hält den Atem an und springt. Und seinen Schrei, einen langgezogenen, verzweifelten Schrei - ich glaube ihn echt zu hören, und auch, wie er von den Felswänden unheimlich zurückgeworfen wird. Aber dann höre ich nur mehr Lydias besorgte Stimme, und gleichzeitig spüre ich ihre weiche Hand auf meiner Stirn. 'Ja, was hat denn auf einmal unser Christian?' sagt sie. 'Ist dir nicht gut? Du bist plötzlich so weiß im Gesicht!' Und Myriam stößt ins selbe Horn.
Ja, mir war tatsächlich schlagartig schlecht geworden, und dazu drohte mir der Kopf zu zerspringen; andererseits empfand ich die Rast im Schatten als ausgesprochene Wohltat. Ich halte gar nichts mehr aus! dachte ich im stillen und erzählte meinen zwei Süßen von dem schaurigen Tagtraum, den ich soeben gehabt hatte. 'Komm, trink ein Wasser!' sagte Lydia drauf. 'Das wird dir guttun!'
Und damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Also holte ich eine frische Flasche aus meinem Sack, öffnete sie und schüttete den halben Inhalt in mich hinein. Den Rest tranken Lydia und Myriam aus. Kurz darauf erlitt eine weitere Flasche das gleiche Schicksal. Und ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich darüber war, denn der Sack war mir während dieser halbstündigen Wanderung schön schwer geworden, und da betrachtete ich jede Flasche weniger bereits als großen Fortschritt. Es waren zwar zum Glück Plastik- und keine Glasflaschen, aber das Wasser allein ist schwer genug; das wißt ihr ja selber. Übrigens - damit ihr euch keine unnötigen Sorgen macht -: die leeren Flaschen haben wir natürlich nicht in der freien Natur liegengelassen, sondern schön brav und umweltbewußt wieder eingepackt. Erstens sind wir ja keine Schweinderln, und zweitens hatten wir selbstredend kein Interesse, irgendwelche Spuren oder wie ein Hunderl sogenannte Markierungen zu hinterlassen. Man konnte ja nie wissen ...
Naja, mit der Zeit ging's mir Gottseidank wieder etwas besser, nur das verdammte Kopfweh - das blieb mir erhalten; und der Muskelkater natürlich auch. Ich begann mich dann wieder umzuschauen und die Gegend auf irgendwelche Anhaltspunkte hin zu untersuchen. Und dabei fiel mir wirklich was auf. Mir fiel auf, daß diese Felsbrocken eigentlich nur in unserem Umkreis so dicht herumlagen, während der Talboden, soweit ich sehen konnte, ansonsten in der Hauptsache entweder aus Sand oder aus Kies bestand; hier lagen sie dagegen kreuz und quer von einer Felswand bis zur anderen und bildeten fast sowas wie eine Barriere. Und dann schaute ich genauer und entdeckte deutliche Spuren von Autoreifen im Sand. Und noch was: diese Spuren waren auf beiden Seiten der Felsbarriere zu erkennen. Da stand ich auf, ging zu den Spuren hin und versuchte festzustellen, ob's zwischen den Spuren unterhalb und denen oberhalb der Barriere irgendeine Verbindung gebe. Und es gab eine solche wirklich! Zwischen und unter den Felsbrocken führten sie weiter. Nun waren aber diese Reifenspuren sichtlich noch verhältnismäßig frisch - sie stammten garantiert nicht aus der Zeit des Eremiten Epiphanios. Zwingende Schlußfolgerung: die Felsbrocken können erst in jüngster Zeit hierhergekommen sein. Da mußte ich an den von mir selber ausgelösten Felssturz denken, und ich fragte mich: Sind das etwa die Auswirkungen 'meines' privaten Felssturzes? Ich schaute mit einer Mischung aus Schauder und Ehrfurcht hinauf und sagte mir: Möglich wär's!
Als ich dann wieder zu meinen zwei Süßen zurückkehrte und ihnen von meinen Beobachtungen berichtete, da reagierte Myriam auf höchst überraschende Weise. Sie sprang nämlich plötzlich auf, deutete aufgeregt talabwärts und rief dann mit ebenso aufgeregter Stimme: 'So dürfen wir nicht gehen! Nein, in dieser Richtung nicht! Das ist die Piste! Auf der sind sie mit uns gefahren! Auf der würden wir ihnen direkt in die Arme laufen!'
'Mhm, da dürftest du recht haben!' pflichtete ihr Lydia mit nachdenklicher Miene bei.
'Nicht wahr?' fuhr Myriam fort, und ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. 'Und wer weiß, ob sie nicht in diesem Augenblick unterwegs sind?'
'Na, na, jetzt übertreib nur nicht!' wandte ich in meinem schönsten pädagogischen Tonfall ein, um sie zu beruhigen; aber in meinem Innersten mußte ich
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