Geliebte Myriam, geliebte Lydia
sein. Dann erinnerte ich mich, auf den diversen Karten festgestellt zu haben, daß der Nil bei Luxor nicht genau von Süden nach Norden fließt, sondern von Südwesten nach Nordosten, und daß dementsprechend das Thebanische Gebirge nicht genau westlich, sondern in etwa nordwestlich von Luxor liegt. Folglich mußten wir uns vermutlich insgesamt in südöstliche Richtung halten. Und ich holte meine Straßenkarte von Ägypten aus der Tasche und studierte sie gemeinsam mit meinen zwei Süßen, aber es war weder auf dem Gesamtplan noch auf dem Umgebungsplan von Luxor irgendein Detail zu erkennen, das uns über diese Erkenntnis hinaus weitergeholfen hätte.
Ja, und so packten wir eben alles wieder ein, suchten uns jeder ein Platzerl, um die Dämonen auf die ihnen gebührende Weise zu verehren, schulterten unsere Taschen und Säcke - das heißt, ich schulterte den Sack mit den Wasserflaschen, und Lydia schulterte den Freßsack -, widmeten dem Felssturz neben uns noch einen letzten, andächtigen Blick und traten somit den Abstieg an, oder man könnte auch sagen: begannen den Heimweg. Die relativ flache Terrasse setzte sich, oberhalb und unterhalb von Felswänden begleitet, nach unten hin fort und wurde gleichzeitig immer breiter und steiler, bis sie die Talsohle der Schlucht erreichte. Dorthin marschierten wir also als erstes, bogen dort in das Trockenwadi ein und folgten diesem talauswärts. Hier mußte zwar unsere Myriam furchtbar aufpassen, und wir, Lydia und ich, mußten auf unsere Myriam furchtbar aufpassen, denn der Weg bestand entweder aus lockerem Geröll oder aus einem Gewirr von Felsbrocken, und er war sausteil, aber es ging wenigstens bergab, und das empfand ich mit meinem entsetzlichen Kopfweh immerhin als enorme Erleichterung. Und ich war überzeugt, daß durch die nun so lang entbehrte Bewegung in der frischen Luft die Schmerzen sowieso rasch vergehen würden. Ich merkte ja, welche Wonne sie mir an sich bereitete und wie gierig ich sie beim Atmen einsog, und beobachtete, daß es meinen zwei Süßen nicht anders erging. Nur die Hitze und die stechende Sonne - die machte uns auf die Dauer arg zu schaffen, und Schatten war keiner in Sicht, und die liebe Sonne, nach der wir uns schon so sehr gesehnt hatten, übertrieb ihre Liebe maßlos und brannte unbarmherzig genau in den Felsenkessel, durch den wir stolperten, hinein und verwandelte ihn buchstäblich in einen Backofen.
Übrigens verlief dieser Weg durch das Trockenwadi praktisch in der Gegenrichtung zu unserem früheren Weg über die flache Terrasse. Und damit befanden wir uns, ehe wir's uns versahen, unterhalb 'unseres' Felssturzes, wie ich ihn nennen könnte. Und gleichzeitig erkannten wir, daß diese kleine Schlucht genau an dieser Stelle in ein größeres Tal mündete und daß somit der Felssturz genau die Kante bedeckte, in die der Berg zwischen diesen beiden Tälern auslief. Und jetzt standen wir zum ersten Mal wirklich vor der Entscheidung: wohin sollen wir uns wenden? Nach rechts oder nach links? Nach rechts - das hieß, wie wir auf den ersten Blick erkannten, talabwärts, und nach links - talaufwärts. Und die Richtung talabwärts war zugleich die Richtung Südosten, also genau die Richtung, die wir nach menschlichem Ermessen einzuschlagen hatten. Bergab ging's obendrein - Herz, was begehrst du mehr? O ja, eins begehrte mein Herz doch noch: Schatten. Und den gab's links, talaufwärts, direkt unterhalb unseres Felssturzes. Und da wir alle drei schon nach Schatten lechzten, wandten wir uns vorerst nach links und ließen uns aufatmend auf dem ersten im Schatten liegenden Felsbrocken nieder. Die bisherige Wanderung hatte zwar kaum eine halbe Stunde gedauert, aber trotzdem hatten wir bereits dringend eine Erholungspause nötig.
Aber natürlich nutzten wir sie auch zur weiteren Erkundung des Geländes. Wir befanden uns hier in einem schmalen, auf beiden Seiten von mehr oder weniger senkrechten Felswänden eingefaßten Tal. Das war offensichtlich der Abgrund, von dem der gute Epiphanios in seinen Bekenntnissen spricht, der Abgrund vor seiner Zelle, in den sich der Knabe Serapion mit Freuden und mit Bereitwilligkeit gestürzt hätte, wenn er's ihm befohlen hätte. Und mir schauderte, als ich zu dem alten, jetzt unter dem Felssturz verborgenen Eingang zur sogenannten Zelle des Epiphanios hinaufblickte und mir das so plastisch vorstellte, wie der Knabe Serapion mit weichen Knien hoch oben auf einem Felsvorsprung steht und zitternd und zugleich mit einem
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