Geliebte Myriam, geliebte Lydia
gleich an! Wie spät ist es denn? Naja, da kann ich gleich bei ihm in der Wohnung anrufen.“
Und mit diesen Worten springt Giggerle auf und stürmt, ohne die Aufforderungen der anderen, das Essen doch nicht kalt werden zu lassen, zu beachten, hinaus ins Vorzimmer, wo das Telefon steht. Man hört ihn mehrere Male wählen; sodann hört man ihn mit lauter Stimme sprechen und schließlich mit noch lauterer Stimme schreien, und zuletzt hört man deutlich, wie er den Hörer auf die Gabel knallt und mit schweren Schritten ins Eßzimmer zurückstapft. Und dann erscheint er mit hochrotem Kopf und wild funkelnden Augen in der Tür, bleibt in ihr unvermittelt stehen, funkelt seine Tischgenossen an mit einem Blick, daß diesen fast das Herz stehenbleibt, und spricht hierauf mit unheilschwangerer Stimme: „Die Bagage ... ist freigesprochen worden!“
Nur diesen einen Satz spricht er, doch die Wirkung, die er mit ihm erzielt, ist eine gewaltige. Im allerersten Moment legt sich zwar lähmendes Entsetzen über die Speisenden, und sie werden alle drei totenbleich, und kurze Zeit herrscht betroffenes Schweigen. Aber dann bricht ein unbeschreiblicher Aufruhr los, und nun denkt keiner mehr ans Essen, und alle lassen sie ihr gutes Essen kalt werden. Und dann wird es mit einem Schlag wieder vollkommen still, und in diese Stille hinein sagt Lydia: „Die ganze Bagage?“
„Jawohl, die ganze Bagage!“ antwortet Giggerle.
„Und mit welcher Begründung, möcht' ich wissen?“
„Mit folgender Begründung: die Angeklagten hätten das Verbrechen nur begangen, um die Ehre der Familie zu schützen. Berechtigte Zweifel am Lebenswandel der Tochter des Klägers und tief religiöse Gesinnung hätten sie dazu veranlaßt. Schließlich schreibe sogar der Koran vor, daß Ehebrecherinnen zu Tode gesteinigt werden sollen. Na, was sagt ihr jetzt?“
Jedoch - jetzt sagt keiner mehr etwas. Allen scheint es vollkommen die Rede verschlagen zu haben, und man hört in der nächsten halben Stunde nichts mehr außer gelegentlichem unterdrücktem Schluchzen aus Lydias Brust und solchen Geräuschen, wie sie entstehen, wenn man mit dem Besteck lustlos in seinem Essen herumstochert. Jeder läßt den Kopf hängen und bläst sichtlich Trübsal, am meisten Lydia und Giggerle, und über diesen ganzen letzten gemeinsamen Abend - denn gleich am nächsten Morgen gedenken Johnny und die Henne die Heimreise anzutreten - scheint sich wie Mehltau ein grauer Schleier aus Trauer, Enttäuschung und Empörung zu legen.
Der Henne gelingt es dann, den Abend doch noch halbwegs zu retten, indem er Interesse für Giggerles Papyri bezeigt und ihn überdies darauf aufmerksam macht, daß er den Inhalt des Papyrus, dessen Kauf zum Anlaß für ihre Entführung und all die daraus resultierenden Ereignisse geworden ist, noch mit keiner einzigen Silbe erwähnt habe.
„Oh - ist das wahr?“ erwidert Giggerle fast bestürzt. „Ja, mir scheint, du hat recht: es ist wahr. Naja, es lag zweifellos an den äußeren Umständen, daß ich darauf vergessen habe.“ Und er erhebt sich, führt nicht nur die Henne, sondern auch Johnny und Lydia in seine Bibliothek und zeigt ihnen seine Papyrusschätze. „Und es lag bestimmt auch daran, daß es sich dabei, wie ihr seht, nicht wie beim ersten Papyrus hier um ein einfaches Papyrusblatt handelt, sondern um einen ganzen Faszikel aus vier Blättern, und damit umfaßt er also nicht weniger als acht Seiten. Dieser Umstand mag mit dazu beigetragen haben, daß ich nicht daran gedacht habe. Aber das werden wir sofort nachholen, ja? Übrigens tu' ich mir hier eh wesentlich leichter als in Melk, denn ...“, und damit greift Giggerle erneut ins Regal und holt daraus ein Konvolut handschriftlich beschriebener Zettel hervor, „... denn hier hab' ich bereits eine fertige Übersetzung im Rahmen einer natürlich noch unveröffentlichten wissenschaftlichen Arbeit, bestehend aus Einleitung, Textedition, Übersetzung und Kommentar. Diese Übersetzung brauche ich euch also bloß vorzulesen - wesentlich weniger mühsam!
Zuvor sind allerdings noch ein paar Bemerkungen allgemeiner Natur erforderlich. Der griechische Text, wie er auf dem Papyrus zu lesen ist, ist nämlich einerseits schon lang bekannt - ich meine: der Wissenschaft -, andererseits vollkommen neu. Wie geht das? werdet ihr sagen. Folgendermaßen: er stammt aus einem schon seit dem 18. Jahrhundert aus einer mittelalterlichen Handschrift bekannten antiken griechischen Literaturwerk des 2. Jahrhunderts nach
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