Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Tempelschlaf, dessen visionäre Erlebnisse uns die Pyramidentexte schildern, die wir heute schon gesehen haben.'
Herr Heuberger verstummte, und seine Zuhörer schwiegen, offensichtlich aufs höchste beeindruckt von seinem tollen Gratisvortrag. Dann sagte Lydia neben mir: 'Was ist ein Tempelschlaf?'
'Im Tempelschlaf', dozierte Herr Heuberger, 'wurde der Pharao immer aufs neue wesenseins mit dem höchsten Gott als dessen Sohn. Diese Vereinigung von Gott und Gottkönig als Vater und Sohn im Einweihungsschlaf war todähnlich, und von diesen todähnlichen Zuständen sprechen die diesbezüglichen Pyramidentexte und nicht vom wirklichen Tod. Sie wurden aus halbem Mißverständnis der Nichteingeweihten später erst auf die Toten bezogen und in mehr oder minder veränderter Form als Grabinschriften verwendet. Diese Texte waren aber ursprünglich Bestandteile des Einweihungsrituals, und diese Einweihung des Königs war Kern und Zentrum der ganzen ägyptischen Religion. Somit war der König der Eingeweihte, durch den der Gott sprach und wirkte, und in den Pyramiden haben wir die Zentralstätten dieser Einweihung zu sehen.'
'Und sehe ich das richtig?' warf Lydia ein. 'Der Tempelschlaf fand in dem Allerheiligsten, wie Sie's nennen, statt, also in dem herrlichen Raum, in dem wir gestanden sind und den Myriam als Sargkammer bezeichnet hat?'
'Exakt.'
'Das heißt also, der Pharao mußte in dem sarkophagähnlichen Granitkasten, wie sie ihn nennen, schlafen?'
'Jawohl.'
'Hm - ob er da gut geschlafen hat? Ich meine, Cheops war zum Schlafen bestimmt Gemütlicheres gewohnt!'
'Das war ja auch kein gewöhnlicher Schlaf, sondern ein Tempelschlaf zum Zweck der Einweihung!'
Darauf wußte Lydia offensichtlich nichts mehr zu erwidern. Aber ich wußte was zu erwidern, und so wandte ich mich jetzt an den Herrn Heuberger und sagte: 'Soviel ich weiß, versteht man unter Tempelschlaf üblicherweise was ganz anderes, und unter Einweihung auch.'
'Ja, was denn?' fragte er und warf mir einen überraschten, um nicht zu sagen: konsternierten Blick zu.
'Naja, unter Tempelschlaf die Sitte, innerhalb eines Tempelbezirks zu schlafen, um eine Traumvision eines Heilgottes zu empfangen, der ein Heilmittel für die Krankheit des Schläfers enthüllt oder ihn überhaupt gleich spontan heilt.'
'Also eine Wunderheilung?' warf Lydia ein.
'So ist es. Und diese Praxis war zumindest in der griechisch-römischen Zeit sehr verbreitet und stand, wohlgemerkt, jedem offen.'
'Und sind die Kranken mit dieser Methode wirklich geheilt worden?' fragte Clemens, der vorher, solange sein Vater doziert hatte, eher vor sich hingeträumt hatte und jetzt auf einmal hellwach zu sein schien.
'Vielleicht nicht alle, das weiß man natürlich nicht. Aber es gibt in Griechenland authentische Heilungsberichte auf Steintafeln.'
'Das heißt, diese tolle Heilmethode hat echt gewirkt? Das ist ja supergeil! Wieso wendet man denn die heute nicht mehr an? Was sich da die Krankenkassen ersparen würden!'
'Oh, sie wird heute noch praktiziert! In Griechenland gibt's einen Marienwallfahrtsort, wo die Kranken auf dem Pflaster des Hofes vor der Kirche oder in der Kirche selber schlafen. Das hab' ich mit eigenen Augen gesehen.'
'Echt?'
Herr Heuberger war inzwischen sichtlich unruhig geworden und schnitt jetzt seinem Filius einfach das Wort ab. 'Soso', bemerkte er etwas spitz, 'und was versteht man üblicherweise unter Einweihung?'
'Einweihung?' sagte ich nachdenklich. 'Damit meint man die Initiation, das heißt, die Aufnahme in eine der Mysterienreligionen wie zum Beispiel die Isis- und Osirismysterien.'
'Na, Isis und Osiris, das sind ja eh ägyptische Gottheiten, und die Cheopspyramide war ja höchstwahrscheinlich ein Osiristempel!'
'Mag sein, aber Mysterien sind grundsätzlich was Griechisches, ob Sie mir's glauben oder nicht!'
'Das versteh' ich nicht! Wieso spricht man dann von Isis- und Osirismysterien?'
'Ja, die Götter und manches Drumherum sind ägyptisch, aber die Idee und der Kult als solcher sind griechisch, von Griechen für Griechen ausgearbeitet.'
'Na, was sind denn eigentlich Mysterien?'
'Mysterien waren geheime Kulte - daher auch der Name -, in die man nur durch bestimmte Initiations- oder Einweihungsriten aufgenommen werden konnte. Und sie sollten den Eingeweihten ein persönliches Nachleben in ewigem Glück bescheren, etwas, was die traditionelle griechische Religion nicht konnte. Die heute bekanntesten unter den rein griechischen Mysterien sind die des Dionysos,
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