Geliebte Myriam, geliebte Lydia
eins nach dem anderen, alle erwiesen sie sich als gleichermaßen wirkungslos gegen die Gier, Skrupellosigkeit und Geschicklichkeit der Grabräuber. Und so kommt es, daß, soviel ich weiß, von den vielen Hunderten von Königsgräbern in Ägypten und auch von den Tausenden von Privatgräbern kein einziges ungeplündert geblieben ist, sei es noch in altägyptischer Zeit, sei es im Mittelalter, sei es in der Neuzeit. Sogar das Tut-ench-Amun-Grab hat ja, wie wir gehört haben, noch in altägyptischer Zeit Besuch von Grabräubern erhalten, die zwar wie die sprichwörtlichen Vandalen gehaust haben, aber aus uns unbekannten Gründen nichts haben mitgehen lassen. Und dabei scheinen die Königsmumien besonders gefährdet gewesen zu sein, weil zwischen den Mumienbinden die allerkostbarsten Schätze eingewickelt waren. Ja, also auch wenn wir Heutige uns das überhaupt nicht mehr vorstellen können, die Tatsache bleibt bestehen, daß für jeden einzelnen Pharao immer wieder von neuem in der einen oder anderen Form eine gigantische Gemeinschaftsarbeit geleistet worden ist - jedesmal nur wegen der Beisetzung eines einzelnen Leichnams.'
'Na sowas!' Mehr brachte der Herr Heuberger fürs erste nicht heraus, sondern schüttelte nur heftig den Kopf und wirkte überhaupt völlig verstört. Dann setzte er offenbar zu einem letzten, verzweifelten Versuch an. 'Wenn das alles so klar und einleuchtend ist - wie ist man denn dann überhaupt auf solche Ideen gekommen? Das muß ja schließlich einen Grund haben!'
'Ha, das hab' ich zufällig gelesen!' gab ich zurück und freute mich im stillen, ihm diese Frage spontan beantworten zu können. 'Das war so: am Anfang der Ägyptologie steht Napoleons berühmte und epochemachende Französische Expedition nach Ägypten 1798 bis 1801 - Sie wissen schon: „Vierzig Jahrhunderte blicken auf euch herab“! Noch vor der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Ergebnisse und zwei Jahrzehnte vor der genialen Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion setzte eine unglaubliche Ägyptomanie ein. In einer großartigen Publikation hat der bedeutende französische Gelehrte Jomard die Pyramiden beschrieben und zwei ergänzende Kapitel über ihren Sinn und ihre Funktion verfaßt. Nun waren aber die Hieroglyphen damals eben noch nicht entziffert, und darum blieben ihm die ägyptischen Schriftquellen und damit das Verständnis der Denkmäler verschlossen und rätselhaft. Und daher verfiel er auf die Deutung der Cheopspyramide als Schöpfung der Wissenschaft, in der eine Art Urelle, die ägyptische Königselle, verbaut gewesen sei, und zugleich als Tempel, in dem die Mysterien der Initiation in Kult und Religion stattgefunden hätten. Überdies hatte man zu seiner Zeit erst sehr nebelhafte Vorstellungen von Mysterien und von Initiation. Trotzdem steht Jomard mit diesen Ideen am Anfang von Generationen von Pyramidenmystikern. Dabei beruht, wie wir gesehen haben, alles auf völlig veralteten und längst überholten Voraussetzungen.'
Noch irgendwelche Fragen? Nein, offenbar nicht. Der Herr Heuberger sah total geknickt drein, und die meisten anderen nickten befriedigt mit dem Kopf und wandten ihren Blick wieder der Pyramide zu; nur Klein-Barbara himmelte hemmungslos Clemens den Großen an - er ist nämlich ein ziemlich großer Lackel -, und Lydia - nun, Lydia, erkannte ich plötzlich zu meiner Verblüffung, himmelte ebenfalls an, und zwar mich! Sie schaute mich mit deutlich erkennbarer Bewunderung an, und als sich mein Blick mit dem ihren kreuzte, begann sie süß zu lächeln und hauchte: 'Wie schön du das alles erklärt hast! Es ist eine Freude, dir zuzuhören! Und außerdem hast du so eine angenehme Stimme! Übrigens auch eine sehr angenehme Mikrophonstimme. Sowas ist selten. Ich hab' da nämlich so meine Erfahrungen!'
'Oho, eine Frau mit Erfahrungen!' scherzte ich.
'Oh, du Schlimmer!' rügte sie mit erhobenem Zeigefinger und lachenden Augen. 'An was du schon wieder denkst!'
'Ich weiß, ich weiß - immer nur an das eine, nämlich die Cheopspyramide. Aber danke schön für die vielen schönen Blumen! Nur finde ich, du übertreibst maßlos!'
'O nein, mein Lieber, ich übertreibe überhaupt nicht!'
Leider gesellte sich genau in dem Moment Freund Götzi zu uns und begann mich ebenfalls über den grünen Klee zu loben und dabei die Lydia nicht aus den Augen zu lassen. Diese nickte zwar in einem fort brav und stimmte ihm voll und ganz zu, aber sie lächelte jetzt nicht mehr, und auch ihre Augen lachten nicht
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