Geliebte Nanny
die schönen luftigen Sommersachen zu tragen, die schon seit Saisonbeginn im Schrank lauern; und ausgerechnet diesen Sommer, in dem ich mehr oder weniger freiwillig den Entschluss gefasst habe, mich von Kopf bis Fuß zu verhüllen, da herrschen ständig tropische Ausnahmezustände.
Ich ziehe die Tunika aus und mache mich frisch. Als ich wieder ins Zimmer zurückkehre, blickt Gerald mich mit großen Augen an. Ach du Schreck, höchstwahrscheinlich erkennt er mich nicht ohne das Kopftuch. Seine Mundwinkel verziehen sich schon wieder auffällig nach unten. Jeden Moment schlägt er Alarm.
»Hey kleiner Mann. Ich bin’s doch – Mel«, wispere ich ihm zu, in der Hoffnung, er erkennt wenigstens meine Stimme.
»MEL«, wiederholt er etwas undeutlich, und anstatt loszubrüllen grinst er mich breit an. Glück gehabt.
Im nächsten Moment höre ich Schritte und bemerke, dass die Türklinke sich bewegt. Dann erklingt Paulines Stimme.
Ich flitze durch’s Zimmer und verschwinde so schnell ich kann im begehbaren Kleiderschrank. Hastig greife ich nach dem nächstbesten Kopftuch und einem wadenlangen Strickmantel in dunklem Violett, der eigentlich für kühle Tage vorgesehen ist, sofern es diesen Sommer überhaupt welche geben sollte. Eilig ziehe ich mich an. Schon steht Pauline im Zimmer, ich binde mir gerade noch rechtzeitig das Kopftuch im Nacken zusammen.
»Bist du fertig?«, fragt sie ungeduldig.
»Einen Moment noch«, rufe ich atemlos. »Würdest du beim nächsten Mal bitte anklopfen?!«
Ich hieve Gerald auf meinen Arm und wir machen uns auf zur Reitschule, die nur eine viertel Stunde zu Fuß entfernt liegt. Pauline sitzt in voller Reitmontur auf ihrem rosa Fahrrad und dirigiert mich in die richtige Richtung. Ich schiebe Gerald im Buggy vor mir her.
Die Gegend ist ruhig, idyllisch und ziemlich ländlich. Aber vor allem ist es furchtbar heiß. Ich zerfließe förmlich unter meinem violetten Strick aus reinster Schurwolle, die zu allem Überfluss auch noch höllisch kratzt.
Zum Glück gibt es auf dem Reiterhof einige schattenspendende Bäume. Während Pauline im Pferdestall verschwindet, setze ich mich auf eine Bank und schäle einen Apfel während Gerald um meine Füße herumkrabbelt. Kleinkinder sind doch alle gleich; stopfen alles, was annähernd essbar aussieht, in den Mund und sabbern und kauen stundenlang darauf herum, bevor sie merken, dass es ihnen am Ende doch nicht schmeckt.
Ich begutachte leicht angewidert den lauwarmen »passierten« Regenwurm, den Gerald mir soeben in die Hand gespuckt hat.
Ein großer grüner Traktor nähert sich. Gerald bestaunt das gewaltige Fahrzeug mit offenem Mund. Im nächsten Augenblick steigt ein klobiger Kerl, mit ungepflegter Gesichtsbehaarung und einer Zigarre im Mundwinkel aus und stürmt zielgerichtet auf uns zu. Bei jedem Schritt wippt sein gigantischer Bierbauch auf und ab.
»He, was lungern Sie hier rum?«, zetert er. »Dies ist Privatgrund und kein Asylantenrastplatz. Verschwinden Sie!«
Seine furchterregende Stimme macht Gerald Angst. Ich nehme ihn auf den Arm. Der Kleine klammert sich an meinem Strickmantel fest und drückt seinen Kopf an meine Schulter.
»Ich warte hier nur«, verteidige ich mich.
»Dann warte gefälligst woanders. Unbefugte haben kein Recht hier herumzuhocken«, ist seine ruppige Antwort.
Muss ich mir so was wirklich bieten lassen?
»Jetzt hören Sie mal zu«, sage ich, diesmal in ebenfalls grobem Ton. »Ich bin sehr wohl befugt, hier herumzuhocken . Ich warte hier nämlich auf ein kleines Mädchen, dessen Eltern viel Geld für Reitstunden bezahlen und zufällig bin ich das Kindermädchen der Kleinen und verantwortlich für sie. Wenn Sie also keinen Ärger mit den Eltern haben wollen, weil Sie ihre Nanny verscheucht haben, dann rate ich Ihnen, mich einfach in Ruhe zulassen!«
Der Bauer guckt blöd aus der Wäsche und brummelt irgendetwas in seinen Bart, bevor er wieder auf seinen Traktor springt. Ich stehe auf und strecke arrogant mein Kinn nach vorne, als er an uns vorbei tuckert. Ich muss mich enorm beherrschen, meine rechte Hand unter Kontrolle zu behalten; mein Mittelfinger zuckt nämlich gewaltig.
Dem hab ich’s gegeben. Es ist aber auch zum verrückt werden. Warum muss ich mich ständig rechtfertigen? Und warum, um alles in der Welt, wirke ich auf die normalen Leute wie ein rotes Tuch? Was haben die denn bloß gegen mich ?
Ich muss Yasi unbedingt fragen, ob sie schon mal ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wobei ich
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