Geliebte Suenderin
das Morgen.
Thomas Gray
KAPITEL 2
Sabrina hüpfte fröhlich die Treppe hinunter, all ihre Gedanken nur auf den schönen Sommermorgen konzentriert. Melodisches Vogelgezwitscher erklang aus den Ästen vor den offenen Fenstern, und eine leichte Brise trug den Duft von Rosen ins Haus.
Der bewaffnete Räuber von gestern war unter dem hellblauen Seidendamastkleid mit dem cremeweißen Unterrock nicht mehr erkennbar. Ihr langes, schwarzes Haar umrahmte das Gesicht in sanften Wellen und war zu einem schlichten Knoten gesteckt, der fast zu schwer aussah für den schlanken Hals, der sich wie ein Blütenstengel aus der Corsage ihres Kleides erhob. Goldene Ringe blitzten an Ohren und Fingern. Sie warf einen Blick auf die goldene Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, und schaute betroffen hoch.
»Ich habe furchtbar verschlafen, nicht wahr?« rief sie Mary zu, die gerade eine Vase duftender Lilien auf dem Eichentisch in der Halle arrangierte. »Und das an einem so wunderschönen Tag, von dem ich keinen Moment vergeuden möchte.«
»Ich weiß, aber ich muß zuerst die Bücher in Ordnung bringen und die Haushaltswäsche nachprüfen, bevor wir zu dem Picknick aufbrechen können«, sagte Mary lächelnd.
»Du bist immer so praktisch, Mary, und ich werde es wohl nie schaffen, vor dir Geheimnisse zu haben. Gibt es denn gar nichts, was du nicht weißt?« sagte sie scherzend, nahm eine Lilie aus dem Weidenkorb und roch daran.
Marys Lächeln verblaßte. »Du weißt, wie froh ich wäre, wenn ich nicht das Zweite Gesicht hätte, Sabrina. Ich will die Zukunft nicht sehen. Sie macht mir angst. Ich habe das Gefühl« - Mary hielt nachdenklich inne -, »diese gräßliche Furcht, daß etwas passieren könnte, wodurch alles über uns zusammenbricht.«
»Hast du seit gestern nacht etwas gesehen, was dich so nervös macht?« fragte Sabrina.
Mary schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nur ein vages Gefühl, das mich so beunruhigt.« Sie lächelte verkrampft.
»Aber wenn du dieses Gefühl hast, passiert doch immer etwas, nicht wahr?«
Mary sah in Sabrinas klare, violette Augen, und Tränen trübten ihre seltsam hellen, grauen Augen. Sie rief: »Oh, Sabrina, dir darf einfach nichts passieren!«
Mary ließ die Lilien, die sie in der Hand hielt, fallen und nahm Sabrina in die Arme. »Du bist so klein und so süß, und trotzdem riskierst du so tapfer dein Leben für uns. Ich könnte es einfach nicht ertragen, wenn sie dich erwischen.«
Sabrina erwiderte die Umarmung und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Alberne Gans. Mir wird nichts passieren. Ich habe Will und John und deine Gabe, die mich leitet. Was kann schon passieren?« Sie lachte zuversichtlich.
»So, und jetzt Schluß.« Sie hielt sich einen Finger an die Lippen. »Wir haben versprochen, tagsüber nie davon zu reden, für den Fall, daß uns jemand von der Dienerschaft belauscht.
Dieser Morgen ist auch viel zu schön« - Sabrina breitete die Arme aus, als wolle sie den Tag umarmen -, »um sich Sorgen über ungelegte Eier zu machen.«
Mary seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich gebe es auf. Keiner kann dir widerstehen, wenn du deinen Charme ins Spiel bringst.« Sie steckte die letzte Lilie in die Vase, machte einen Schritt zurück, um das Arrangement zu bewundern, und wandte sich dann zufriedengestellt an Sabrina.
»Komm, du hast doch sicherlich Hunger.«
»Und wie, mein Magen knurrt entsetzlich. Ich verstehe gar nicht, woher ich einen so unmäßigen Appetit habe«, sagte Sabrina spöttisch. »Es muß an der Gesellschaft liegen, in der ich mich bewege.« Sie sah Mary mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck, aber blinzelnden Augen an.
»Also wirklich, Sabrina, du bist ein unverbesserlicher Wild-fang«, sagte Mary lachend, als sie den Speiseraum betraten und sie ihrer Schwester half, sich einen Teller vom Sideboard mit den vielen Terrinen vollzuladen.
»Wirkliche Damen der Gesellschaft wären entsetzt von dem, was du so früh am Morgen ißt«, meinte Mary, als sie zu den Eiern auf Sabrinas Teller noch Würstchen und gebutterten Toast legte. Sie selbst nahm sich nur einen kleinen Teller mit Brot und Butter.
»Ich bezweifle, daß die sich mit Brot und Butter zufriedengä-
ben, wenn sie um Mitternacht herumreiten müßten«, erwiderte Sabrina und nahm genüßlich ein Stück Würstchen und einen Schluck heißen Tee. »Gehst du heute vormittag aus?«
»Später, wenn ich die Haushaltspflichten erledigt habe. Ich habe einen Korb für Mrs. Fisher vorbereitet. Ein paar Eier,
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